10 naive Fragen: Wo ist unser Menschenbild verkürzt?

Wir zerlegen uns selbst in geliebte und verhasste Anteile. Wir finden uns prima, viel besser als andere – und verleugnen, was wir mit ihnen gemeinsam haben. Wir unterscheiden zwischen unserer Gruppe als die richtige und den Übrigen. Auf diesem Pfad schlittern wir ins persönliche Unglück und in die globalen Krisen, die uns als Spezies insgesamt bedrohen. Wie kann uns ein verändertes Menschenbild in dieser Situation helfen?

Ausländer raus, Nazis raus

„Ausländer raus!“, „Merkel raus“, „Nazis raus“ – ist damit irgendein Problem gelöst? So verschieden (berechtigt) diese Parolen sind, haben sie doch etwas gemeinsam. Und zwar eine absolute Konstante der Menschheitsgeschichte: Wir trennen Menschen in gut und böse, in nützlich und schädlich.

Die Lösung unserer Probleme wirkt schnell und einfach. Was stört, packen wir geschwind in die Ablage P, fertig. Aber haben wir das Problem gelöst, wenn wir einige Menschen loswürden? Dann nähmen nur andere ihren Platz ein. Mal angenommen, die zögerliche Ex-Klimakanzlerin räumte ihren Stuhl. Wir wissen heute schon ziemlich genau, dass das nur bedeutet: Ein Söder o.ä. übernimmt. Und das macht es keineswegs besser.

Und selbst, wenn sich jemand anderes an der Spitze fände, der oder die einen wirklichen Unterschied machen würde: Was wäre dann mit den Fans der alten Politik? Wie viel echte Klimapolitik würden die Bürger:innen hierzulande mitmachen? Die Lösung: Merkel raus, Nazis raus, #niemehrCDU, #niemehrSPD – ach wirklich? Hier dreht sich etwas im Kreis!

Egal, wie viele Leute heute auf Twitter #NieMehrCDU fordern: Die Partei wird immer noch da sein. Mit dieser Realität sollten wir uns anfreunden. Andernfalls werden wir keines der Menschheitsprobleme lösen.

Selbst wenn wir die Spitzen kappen, bleibt ein Problem. Denn natürlich forcieren interessierte Kreise ständig die Überkonsum-Gesellschaft. Aber niemand kann uns zum Überkonsum zwingen. Wir entscheiden uns schon selbst dafür. Selbstverständlich arbeiten die regierenden Parteien mit allen Tricks, um an die Macht zu kommen und an der Macht zu bleiben. Aber niemand wurde dazu gezwungen, sie zu wählen.

Keine Flugscham: Privatjets bei Superreichen

Am 29. Oktober 2019 erschien ein kleiner Artikel in der taz, der vielleicht mehr über die Klimakrise aussagt, als viele lange Debatten. Im Oktober 2019 wurde viel über die Flugscham diskutiert. Fliegen gehört wie (Auto) Fahren, Fleisch essen und (sehr viele) Kleidungsstücke (Fummel) kaufen zu den relevanten Beiträgen von Privatpersonen zur Klimaerhitzung (die „vier F“ – im Gegensatz zum Joghurt-Becher-Recycling uvm., das ein viel kleinerer privater Beitrag ist). Insofern war die Debatte übers Fliegen grundsätzlich angebracht. Auch wenn es besser wäre, statt über privaten Verzicht über das Einfrieren der Fluglizenzen auf dem aktuellen Niveau zu sprechen (vgl. Michael Kopatz‘ Vorschläge, von der Ökomoral weg zu kommen).

Doch der kleine taz-Artikel berichtet zeitgleich zur Flugscham-Debatte über eine verborgene Wahrheit. Unter der Überschrift: „Privat schöner fliegen“ wird der Trend zum Privat-Jet geschildert. Die taz bezieht sich auf das Luftfahrtunternehmen Honeywell Aerospace und dessen Marktüberblick. Seit 2019 seien 690 neue Privatjets im Einsatz (9 % mehr als 2018). In den nächsten zehn Jahren werden etwa 7600 neue Flugzeuge erwartet, die superreiche Privatleute oder Unternehmen für ihr Topmanagement anschaffen. Der CO2-Ausstoß pro Person liegt hier beim 40-fachen eines Linienflugs.

Während also in der Öffentlichkeit breit die Flugscham diskutiert wird, machen Superreiche und Unternehmen im Hintergrund alles zunichte, was von der Normalbevölkerung vielleicht eingespart wird.

Aber die Geschichte geht noch weiter, wenn wir auf die Gründe für den Privatjet-Trend blicken. Diejenigen, die sich das leisten, treibt laut Honeywell Aerospace keine Notwendigkeit. Sondern? Der Spaßfaktor! Beschrieben wird das schöne Styling der Flieger, die gewachsene Reichweite, die praktische und angenehme Innenausstattung mit genügend Raum fürs Arbeiten und Relaxen. What????

Man könnte fast sagen: Mehr braucht man über die Menschheit nicht zu wissen. Oder, etwas ausführlicher formuliert: Man könnte sagen, diese Typen, die sich die Privatjets leisten, sind schlicht A.-Löcher. Aber was wäre damit gewonnen?

A.Löcher raus? Wohin? Und, falls das klappt, ist damit das Problem aus der Welt? Leider nicht. Das xy-raus-Muster versagt. Menschen sind nicht beherrschbar, sondern tun, was sie wollen. Natürlich gibt es Möglichkeiten sie einzuhegen, beispielsweise über Gesetze. Das meiste regelt, wie auch insgesamt im Umweltverhalten, allerdings der Geldbeutel. Wer sich keinen Privatjet leisten kann, verzichtet darauf. Aber insgesamt ist mit Geld offensichtlich wenig wirklich zu lösen. Eine radikale Besteuerung wäre ein Weg – aber Enteignung wird nicht gehen. Und selbst mit der Besteuerung wird es offensichtlich schwierig.

Wir Menschen sind Ursache und Lösung der globalen Klimakrise zugleich

Die Privatjet-Problematik ist nur ein prägnantes Beispiel für das Dilemma. Die Leute suchen sich aktiv Auswege, die weitgehend kostenlose Umwelt zu verschwenden, wenn es ihnen dient. Und für einen Paulus wird ein anderer zum Saulus. Alles, was nach der xy-raus-Lösung aussieht, funktioniert nicht.

Durch die Flugscham-Diskussion verschwinden die Superreichen nicht. Durch #niemehrCDU löst sich diese Partei und ihre Millionen Wähler:innen nicht in Luft auf oder werden ökologisch. Durch den Kampf um die richtige Richtung in der Klimabewegung werden die anderen nicht plötzlich einsichtig, radikaler, braver – wie immer wir es wollen.

Menschen sind autopoietische Systeme, deren Verhalten beeinflussbar ist, aber nie beherrschbar. Auf ein paar hundert Leute mit Flugscham kommen ein paar, die sich neuerdings einen Privatjet leisten. Auf eine noch relativ vernünftige Merkel, kommt ein völlig irrwütiger Trump.

Abspaltung unserer Gefühle

Wenden wir uns kurz von der Politik-Psyche ab und blicken in uns selbst hinein. In unserem Psychohaushalt wiederholt sich das skizzierte Muster. Wir zerteilen uns selbst in gute und schlechte, in sympathische und ungeliebte Züge. Oder die Ratio wird verteufelt und die Gefühle werden gehypt. Oder anders herum. So schwanken wir zwischen überhöhtem und gedrücktem Selbstbild und leiden darunter.

Betrachten wir dazu einen einfachen Satz, der dies beschreibt und uns auch im schon diskutierten Zusammenhang der psycho-politischen Überlegungen weiterhilft: „Du alleine bist weder das Problem, noch die Lösung des Problems.“ Alleine richtet niemand die Welt zugrunde – alleine kann sie niemand retten. Niemand hat alleine die beste Lösung. Und niemand ist bedeutungslos für die Lösung. Wir sind Ursache und Lösung der Klimakrise zugleich.

Ein neues Menschenbild

Unser Menschenbild ist immer dort verkürzt, wo wir nur einen Teil in den Blick nehmen und andere Teile ignorieren. Wir fokussieren nur einen Teil unseres Selbst. Wir betrachten uns als isoliert von Teilen der Menschheit. Die Klimaengagierten oder die Linken separieren wir als guten Teil der Menschheit, die anderen auf der schlechten Seite. Macht das Wörtchen „gut“ hier ein Unterschied? Nicht wirklich. Dahinter steckt die xy-raus-Falle. Sie lenkt uns nur von den Gemeinsamkeiten ab, die „gute“ wie „schlechte“ Menschen verbindet. Die #niemehrCDU-Fans und die #CDU-Fans verbindet ihr Menschsein. Ihre Gefühle und grundsätzlichen Werte. Und ihr verkürztes Menschenbild.

Rechte Ideologen framen andere gerne als Tiere statt als Menschen. Jüngstes Beispiel: Lukaschenko bezeichnet diejenigen, die gegen ihn protestieren nicht als Menschen, sondern als „Ratten“. Linke Menschenfreunde müssen das besser hinkriegen. Wenn aber ein rechter, hasserfüllter Hetzer auch Mensch und Teil der Menschheit ist, haben wir auch mit ihm etwas gemeinsam. Auch friedfertige Menschenfreunde tragen in sich dieses negative Potential. Wir können hassen – oder dieses Gefühl nachvollziehen. Wir können hetzen – oder uns in die Lust darauf hineinversetzen. Weil auch Hass und Hetze typisch menschliche Emotionen und Handlungen sind. Teil des Menschen, der Menschheit.

Die Lösung der Klimakrise

Menschen sind Ursache und Lösung der globalen Klimakrise zugleich. Sie sind nicht beherrschbar, sondern haben ihren eigenen Willen. Sie suchen sich selbst Wege. Menschen sind gerne mal egoistisch, unvernünftig und unfair.

Sind wir also verloren? Ist es das, was ich hier sagen will? Wir näheren uns unaufhaltsam einer 4 Grad oder noch heißeren Erde, in der weite Teile unseres Planeten unbewohnbar werden und Milliarden Menschen werden in den nächsten Jahrzehnten aus diesem Grund sterben?

Nein, das will ich nicht sagen. Aber, bevor wir weiter eine ideale Welt erträumen, die nicht existiert, sollten wir realistisch werden. Das hört sich harmlos an, führt aber zu radikalen Konsequenzen.

Wir müssen feststellen: So schön der Traum vom aktiven, gesunden, friedfertigen, klimagerechten und fairen Menschen ist – die Realität des Menschen beschreibt er nur zu einem Teil. Die Realität sind wir als Menschen, die glauben, die Welt ändere sich, indem wir uns entscheiden, welches die beste Welt und der beste Weg dorthin ist. Die Probleme lösten sich, indem wir feststellen, was die Lösung ist und genau dafür kämpfen. Also: Weg mit den Privatjettlern. Aber dann … investieren sie ihren Reichtum vielleicht in Flüge ins All. Unsere Realität ist der alltägliche Klein-klein-Kampf um eine bessere Zukunft, während andere sich den Privatjet oder das Abholzen der Regenwälder in ihrem Brasilien gönnen. Erst wenn wir vom Traum erwachen und ihn mit der Realität verbinden, können wir adäquat handeln.

In der Biologie heißt das Schlüsselwort „Evolution“. Bei uns heißt es „Entwicklung“. Die einzelnen Menschen und die Menschheit kann und muss sich weiter entwickeln.

Entwicklung bedeutet: Es gibt nur Anreize, für mehr Fairness und Vernunft. Es gibt kein absolut wirksames Mittel, mit dem Menschen fairer und vernünftiger werden. Unsere Argumente mögen noch so überzeugend, die Fakten noch so klar sein. Das führt nie dazu, dass Menschen in der Mehrheit auf ihre Vorteile verzichten. Die meisten werden weiter faul Auto fahren, statt gesund in die Pedale zu treten. Wir werden weiter dazu tendieren, es uns gut gehen zu lassen, während Geflüchtete im Mittelmehr ertrinken oder in Afrika verhungern.

Wir müssen uns mit der Realität abfinden, dass Menschen gerne mal egoistisch und faul sind – und zwar in der Mehrheit. Wir müssen uns mit der Tatsache abfinden, dass die Klimakrise in den nächsten Jahren gelöst werden muss: In den denselben Jahren, in denen die Union weiter die meisten Abgeordneten im Bundestag stellt und die Grünen ein viel zu zahmer Mitspieler sind.

Nur ein realistisches Menschenbild ermöglicht eine realistische Lösung

Wenn es also keine „Klimafeinde raus“-Lösung gibt, sondern einen gerne mal trägen Menschen, der zuerst an sich selbst und seine Familie denkt: Was funktioniert da? Halten wir es fest: Es gibt keine Abkürzung, in der die sich falsch verhaltenden, die falsch wählenden Menschen einfach verschwinden oder zur Vernunft gezwungen werden können. Wir müssen den langen Weg gehen und Lösungen finden, in denen die Menschen entweder selbstbezogen, träge und unwillig bleiben dürfen und trotzdem das Richtige tun. Oder indem sie sich aus eigenem Willen heraus und in ihrem Tempo ändern.

Wenn wir einen Quantensprung in der Klimaschutzpolitik brauchen, müssen wir einige wesentliche Köpfe der Union überzeugen, dass es nur gemeinsam, überparteilich geht. Wir müssen mitdenken, welches ihre Hauptinteressen sind, nämlich wiedergewählt zu werden. Und dies akzpetieren. Es gibt keine anderen Unionler. Es gibt keine Welt ohne Unionler. Es gibt in den nächsten Jahren keine anderen relevanten Parteien und keine radikaleren Grünen oder eine Klimapartei mit relevanten Stimmanteilen.

Alle links von den Klimawandelleugnern müssen sich aufs Überleben der Menschheit einigen. Nur, wenn das Überleben der Menschheit aus der parteipolitischen Profilierung herausgehalten wird, ist es möglich. Es gibt keine Abkürzung, keine praktische #CDUraus-Lösung.

Eine klare Führung, die zusammensteht, braucht keine Opposition befürchten, die nur die Klimalüge auf ihrer Seite hat. Ökoroutinen statt Ökomoral sind wichtig, um einzelne nicht zu überfordern.

Ob das Erfolg hat und ich allen Ernstes an diesen Erfolg glaube? Diese Frage ist durchaus interessant. Aber letztlich ohne Belang: Es keine Abkürzung. Es gibt sie auch dann nicht, wenn die Zeit drängt. Wenn wir unser Menschenbild unzutreffend verkürzen, würde es sehr viel schneller gehen. Aber so sind Menschen nicht. So sind wir nicht. Dies ist der Weg. Wie schnell auch immer er beschritten werden kann. Die Geschwindigkeit, in der sich Menschen verändern, richtet sich nicht danach, wie schnell sie sich verändern müssten, um das selbstangerichtete Unheil zu überwinden.

Die einzige – allerdings erhebliche – Beschleunigung der Prozesse:

  • Möglichst schnell unser Menschenbild korrigieren
  • Gezielt die richtigen Anreize setzen
  • die richtigen Akteure zur Selbstveränderung bringen
  • Keine Energie in xy-raus-Lösungen investieren
  • Möglichst viel Energie dabei einsetzen, die eigenen Träume mit der Realität zu verbinden.

Optimismus für die #Klimakrise

Noch ein optimistischer Gedanke: Ken Wilber u.a. ist davon überzeugt, dass sich die Menschheit zum Positiven weiterentwickelt. Die Forschung zur Ich-Entwicklung (nach Jane Loevinger) weist nach, dass die Fähigkeit zum komplexeren Wahrnehmen eine Ausstrahlung auf andere hat. Und Wilber argumentiert, dass es kritische Größen geben könnte, ab der Gesellschaften viel schneller zur Vernunft kommen könnten, als in einem kontinuierlichen Prozess. Ich-Entwicklung beschreibt grundsätzlich qualitative Sprünge und damit etwas potenziell Schnelles – und eine solche Entwicklung könnte EIN Element auf dem Weg in eine lebenswerte Zukunft sein.

Wenn es keine Abkürzung gibt, heißt das: Je schneller wir nach Lösungen im WIR, nach gemeinsamen Wegen, auch mit Konservativen suchen (egal, was diese in der Vergangenheit verbrochen haben), je eher wir auf Entwicklung setzen und Impulse geben (statt andere zum Besseren zwingen zu wollen), desto eher kommen wir voran. Dass übrigens hier und da die radikale Wahrheit sowie ein wenig Ungehorsam helfen kann, um ins ernste Gespräch zu kommen, widerspricht dieser Wir-Lösung überhaupt nicht.

Aber Zwang und Druck ohne positiven Ausweg ist sinnlos, wenn wir ein komplettiertes Menschenbild zugrunde legen, in dem sich Menschen letztlich selbst entscheiden und ihr Leben in Eigenregie gestalten (wenn auch beeinflusst durch viele Faktoren). Und das heißt: Nur Wege, in denen die Unionler wiedergewählt werden, kommen in Frage. Die Veränderung der Unionler selbst und ihrer Wähler:innen kann deswegen trotzdem folgen. Oder sogar: Besonders dann.

Dies ist Teil 5 der Blogserie: 10 naive Fragen zum Menschen.

Teil 1 Was brauchen wir, um uns zu retten?
2: Wieso sollten wir die Menschheit lieben?
3 Gibt es echte Liebe zwischen Menschen?
4 Warum ändert Vernunft nichts und ist doch das Ziel?
5 Sind wir zu blöd, um zu überleben?
(6 Wo ist unser Menschenbild verkürzt?)
7 Warum hilft die akademische Psychologie kaum weiter?
8 Ist der Mensch im Grunde gut?
9 Kriegen wir noch die Kurve?
10 Warum sich noch engagieren?

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