Müssen wir uns als Menschen weiterentwickeln, um die Klimakrise zu bewältigen?

Durch Klimakrise und Artensterben leiden schon heute unzählige Menschen. Unsere Zivilisation insgesamt scheint bedroht. Wie immer es weitergeht: Es muss anders werden. Wir Menschen sind Ursache und Lösung dieser Krisen zugleich. Kann es sein, dass wir uns menschlich weiter entwickeln und reifen müssen, um die Krisen zu lösen? Kann es sein, dass wir im anderen Fall zum Scheitern verdammt sind?

12 Gründe, die Ich-Entwicklung mit der Klimakrise zusammen zu denken

„Menschen sind Ursache und Lösung der Klimakrise zugleich“ – doch was bedeutet das? In jedem Fall, dass die Psychologie wichtig ist, um die Klimakrise in den Griff zu bekommen. Das psychologische Modell der Ich-Entwicklung (nach Jane Loevinger 1973, 1976) setzt genau hier an. Das aus der Empirie heraus entwickelte Modell ist seit Jahrzehnten etabliert – wenn auch v.a. im deutschen Sprachraum kaum bekannt. Es ist Persönlichkeits- und Entwicklungsmodell zugleich. Menschen werden nicht fertig geboren, sondern entwickeln sich, das ist bekannt. Auch als Erwachsene lernen wir jeden Tag dazu. Meist bleibt es beim Lernen. Manchmal jedoch sorgen neue Erfahrungen dafür, dass wir zusätzlich die Raster in unseren Köpfen verändern. Wir sehen dann uns selbst und die Welt mit anderen Augen. Unsere Handlungslogik verändert sich. Wie genau dies geht und was die Folgen davon sind, beschreibt das Modell der Ich-Entwicklung nach Jahrzehnten der internationalen Forschung recht genau.

Hier sind zwölf Gründe dafür, dass es unsere Ich-Entwicklung entscheidend ankommt, wenn wir die ökologischen Krisen lösen wollen.

  1. Alle Fakten zur Klimakrise sind bekannt. Doch meistens prallen sie an uns ab. Verbinden wir diese Fakten jedoch mit dem eigenen Selbst- und Weltbild, ändert sich dies plötzlich.
  2. Die Ökokrisen sind hochkomplexe Probleme. Das Modell der Ich-Entwicklung beschreibt, wie Menschen sich Schritt für Schritt dahin entwickeln, immer größere Komplexität verarbeiten zu können. Dies hilft weiter, um zu adäquaten Lösungen zu gelangen (ein konkretes Beispiel finden Sie weiter unten).
  3. Die Ökokrisen beziehen sich alle auf größere Zeiträume. Das Modell der Ich-Entwicklung beschreibt, wie der individuelle Zeithorizont sich immer mehr ausweitet. Bei circa 85 % der Erwachsenen kann der handlungsleitende Zeithorizont auf maximal 5-10 Jahre geschätzt werden – was erschreckend kurz ist!
  4. Wer wissenschaftliche Fakten nicht akzeptiert, dem fehlt die Fähigkeit, anderen Menschen zu vertrauen. Daraus ist ableitbar: Mit Wissenschaftsleugner:innen sollten wir weniger über Fakten und mehr über Vertrauen sprechen. Das Modell der Ich-Entwicklung beschreibt explizit eine Phase, bevor Menschen grundlegendes Vertrauen entwickeln konnten und die Phasen danach.
  5. Ich-Entwicklung bezieht sich immer wesentlich auf die Zukunft. Diese Perspektive brauchen wir. Denn so, wie es bisher war, kann es nicht weitergehen. Wir können nicht weiter mehrere Erden verbrauchen. Die Entwicklungsperspektive beinhaltet immer, dass wir die Dinge vielleicht in Zukunft ganz anders wahrnehmen könnten – auf eine Art, die wir heute noch gar nicht erahnen.
  6. Verblüffender Weise fand die Forschung zur Ich-Entwicklung heraus, dass Menschen sich nicht in einem Kontinuum entwickeln. Sondern es gibt eine erstaunlich überschaubare Anzahl recht zeitstabiler Phasen, die wir durchlaufen. Damit ist es möglich zu beschreiben, was jenseits des Verständnisses einer Phase liegt. Wenn jedoch in einer zu späten Handlungslogik argumentiert wird, hilft die geschickteste (Umwelt-) Kommunikation nicht weiter. Die Handlungslogik muss angepasst werden – was nur mit der Kenntnis dieser Logiken gelingen kann.
  7. Auf Basis dieser Stufen von Handlungslogiken bzw. Selbst- und Weltbildern ist es jedoch möglich, richtig zu kommunizieren sowie den nächsten Schritt in der Entwicklung ins Auge zu fassen. Dies gibt beispielsweise interessante Anregungen für die Einschätzung einzelner Entscheidungsträger:innen und was jeweils möglich und sinnvoll erscheint, um gemeinsam weiter zu kommen.
  8. Die Entscheidungsträger:innen unserer Gesellschaft müssen sich verändern – bzw. weiterentwickeln. Viele von ihnen bringen die Fakten nicht mit sich selbst in Zusammenhang und handeln daher nicht entsprechend. Ich-Entwicklung macht Mut, dass dies – zuweilen entgegen jedem Anschein – möglich ist und liefert Anhaltspunkte dafür, wie dies gelingen kann.
  9. Da wir alle auf einer Erde leben und die Verhältnisse ungerecht sind, erreichen wir Klimagerechtigkeit nur mit einem neuen Gemeinschaftsgeist. Das Modell der Ich-Entwicklung beschreibt genauer, wie dieses neue Wir aussehen könnte.
  10. Das psychologische Modell der Ich-Entwicklung betrachtet einzelne Menschen, aber auch, wie eine Interaktion zwischen ihnen zu ihrer Weiterentwicklung beiträgt. Damit verschränkt es Psychologie und Gesellschaft miteinander. Die Mischung von Reifestufen der Menschen einer Gesellschaft entscheidet mit darüber, wie die Gesellschaft insgesamt funktioniert.
  11. Der Überkonsum unserer Gesellschaft ist ein Kernproblem in der Klimakrise. Auf späteren Stufen wendet sich das Interesse der Menschen zunehmend dem eigenen Innenleben zu – und damit vom Konsum ab.
  12. Die spätesten messbaren Stufen der Ich-Entwicklung, die so selten vorkommen, dass sie erst nach 15 Jahren intensiver Forschung genauer beschrieben werden konnten, bieten inspirierende Ausblicke darauf, wohin Menschen und die Menschheit insgesamt streben könnten.

Welche Gründe sprechen dagegen, das Modell der Ich-Entwicklung und die Klimakrise zusammen zu denken?

Jeder einzelne der oben genannten Punkte wäre Grund genug, meinem Vorschlag zu folgen. Aber es gibt auch Gründe, die aktuellen Menschheitskrisen ohne Entwicklungsperspektive zu betrachten.

  1. Das Modell der Ich-Entwicklung ist – vor allem im deutschen Sprachraum – kaum bekannt (immerhin fasst Binder, 2016, den internationalen Forschungsstand zusammen, Leuthold, 2020, beschreibt brillant Verbindungen des Modells zu aktueller Gehirnforschung und fernöstlichen Erkenntnis-Traditionen)
  2. Das Modell ist hochkomplex (die wesentlichen Kernpunkte zu erfassen braucht Zeit)
  3. Die Stufen des Modells suggerieren eine Ungleichwertigkeit von Menschen, was enorm abschreckt (Da diese Stufen empirisch bestens belegt sind, handelt es sich allerdings im Grunde um ein ideologisches Argument. Gleichwürdigkeit ist moralisch entscheidend)
  4. Klimakrise und Ich-Entwicklung wurden bisher kaum zusammen gedacht
  5. Dieses Vorhaben funktioniert nicht von einer neutralen wissenschaftlichen Position aus oder als abstrakte Politik, sondern bedeutet, sich auch persönlich einzulassen

Rettet uns der vorgeschlagene Ansatz wirklich aus der Klimakrise?

Nein, nicht allein, denn es gibt auch andere wichtige Faktoren. Dazu gehören die Werte der Gesellschaft und natürlich viele physikalische und wirtschaftliche Prozesse und Systeme. Außerdem gibt die Ich-Entwicklung zwar viel Hoffnung. Doch sie liefert zugleich Argumente für die Hoffnungslosigkeit. Das Modell beschreibt einerseits qualitative Sprünge (“die Welt mit neuen Augen sehen”), so dass die heute notwendige zeitliche Dynamik möglich erscheint. Aber, selbst wenn einzelne Menschen auf dem Weg zum nächsten Level sind, dauert es meist 5-7 Jahre, bis sie vollständig dort angekommen sind. In einer Gesellschaft könnten sich jedoch viele Menschen gleichzeitig entwickeln. Dies könnte schnell gehen und insgesamt eine große Kraft entfalten. Eine veränderte Politik einzelner prägender Figuren könnte einen solchen Prozess auslösen und würde wohl eine weite Ausstrahlung mit sich bringen.

Zu beachten ist, dass sich das Modell weitgehend inhaltsneutral verhält: Es beschreibt (Gehirn-) Strukturen, keine Inhalte (Dies ist das Kern-Missverständnis von Spiegel-Autor Stefan Schultz, der Ich-Entwicklung mit Politik zusammen brachte, wie ich hier erkläre).

Insgesamt bin ich persönlich überzeugt, dass eine gigantische Chance für uns darin liegt (zusätzlich zu anderen Ansätzen), Entwicklung allgemein und konkret Loevingers Modell auf seine Relevanz für unsere Krisen zu erkunden. Dazu ist Ich-Entwickung lustvoll, wie Thomas Binder sagt. Sie beinhaltet die Perspektive für einzelne, ein erfüllteres Leben zu erlangen.

Wer an diesem Projekt mitarbeiten oder mehr dazu wissen will, kann mich gerne per E-Mail anschreiben.

Ein Text zur ersten intuitiven Einschätzung des Ich-Entwicklungsmodells finden Sie hier.

Konkretes Beispiel

Was ist von Bundeswirtschaftsminister Altmaiers Vorschlag einer parteiübergreifenden Charta für die Lösung der Klimakrise zu halten? In der Klimabewegung war er schnell abgetan, denn seine konkreten Forderungen bleiben weit hinter dem Notwendigen zurück.

Was hier bei der Reaktion auf die Charta deutlich wird, beschreibt die Ich-Entwicklungs-Forschung allgemein: Circa 85 Prozent der Menschen erfassen die Welt und sich selbst in Entweder-oder-Schemata. Entweder Altmaier ist Freund oder Feind. Entweder er gehört zur eigenen Community oder nicht. Seine Charta-Idee ist entweder richtig oder falsch. Sie entspricht insgesamt den eigenen Werten und Zielen oder nicht. Skizziert sind damit 4 verschiedene, aufeinander aufbauende Auffassungen. Alle vereint aber, dass sie nach dem Entweder-oder-Muster gestrickt sind.

Eine Sowohl-als-auch-Position wäre: Ja, Altmaier hat vollkommen Recht mit der Idee, dass die globale Klimakrise eine überparteiliche Lösung braucht (parteipolitische Profilierung verhindert immer größere Sprünge, zumal die AfD stets bereit ist, einfache Nicht-Lösungen anzubieten). UND, ja, Altmaier bleibt immer noch hinter den Erwartungen zurück. UND er selbst hat als verantwortlicher Umwelt- und Wirtschaftsminister das Problem wesentlich mit verursacht. Alle Aussagen können zugleich zutreffen. In diesem Fall müssen sie auch alle berücksichtigt und miteinander verbunden werden. Das bedeutet, die Realität nicht zu vereinfachen, sondern sie angemessener zu beschreiben. Dementsprechend folgen eine andere Lesart der Zusammenhänge, andere Narrative und neue Strategien.

Einen Tweet an Altmaier hatte ich zum Beispiel so formuliert:

“Mit allen reden zu wollen, ist genau der richtige Ansatz, um MEHR hinzubekommen, als im parteipolitischen Hickhack geht.

Mit allen reden zu wollen, um zu reden, ist genau der falsche Ansatz. #ActNow”

Wir Menschen sind Ursache UND Lösung der globalen Klimakrise zugleich – das ist eine Sowohl-als-auch-Formulierung, die es für uns Menschen mehr und mehr zu akzeptieren und umzusetzen gilt.

Literatur:
Thomas Binder (2016) Ich-Entwicklung für effektives Beraten, Vandenhoeck und Ruprecht (verkürzte Version seiner Promotion, ausführliche Beschreibung des Modells mit Literaturüberblick auf 165 Seiten)
Leuthold, A. (2020): Ego Development und Konzeptualisierung von auf Inklusion bezogenen Handlungsmöglichkeiten bei Studierenden erziehungswissenschaftlicher Studiengänge an der Universität Erfurt. Online unter: https://www.db-thueringen.de/receive/dbt_mods_00042950.
Loevinger, J. (1973). Recent research on ego development. Bethesda. Md.: National Institue of Mental Health (DHEW).
Loevinger, J. (1976). Ego-development. Conceptions and theories. San Francisco, CA: Jossey-Bass.

Ein Kommentar

  • Ich sehe das genauso, Christoph. Unsere Haltung und damit unsere Ich-Entwicklung entscheidet, wie wir Zukunft denken können. Wenn wir wüssten, dass der mögliche Sinn des Lebens die Evolution von Bewusstsein ist, könnten wir eine neue ethische Ordnung gestalten.

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