Warum ändert Vernunft nichts und ist doch das Ziel?

Vernunft wird allenthalben eingeklagt. Konservative Politiker fordern gerne mal junge Klimaaktivist*innen auf, runterzukommen und vernünftig zu sein. Die Jungen halten dagegen: „Hört auf die Wissenschaft!“. Wie passen Ratio und Gefühl zusammen? Wenn wir diese Frage beantworten können, sind wir einen Schritt weiter. Doch dann drängt sich etwas Drittes ins Blickfeld: Unsere Selbstsucht. Sie beschädigt sowohl vernünftiges Denken als auch eine geordnete Gefühlswelt.

Im Gehirn gehen Ratio und Emotion zusammen

„Sei vernünftig!“ im Sinne von “Nutze deinen Verstand!” ist ein Appell, der im Grunde nur etwas taugt, wenn er überhaupt erfüllbar ist. “Sei Mensch!” ist zum Beispiel eine sinnlose Aufforderung, wenn man eben ein Mensch ist. Daran lässt sich ohnehin nichts ändern. Und wenn wir einen Menschen auffordern: “Sei Vogel!” ist das ein absurdes Ansinnen. Es ist uneinlösbar.

“Sei vernünftig!” als Aufforderung zum Denken statt Fühlen ergibt nur einen Sinn, wenn Denken ohne Fühlen funktionieren würde. Doch das ist nicht der Fall! Wenn es regnet und das Kind nur mit dem Pullover aus dem Haus will, mahnen die Eltern: „Zieh dir eine Regenjacke an, sei vernünftig!“. Aber egal, wie der Zwist ausgeht: Ob das Kind nun mit Regenschutz hinauszieht oder ohne, es wird dabei denken und fühlen. Die Aufforderung”Denken Sie nichts!” funktioniert nicht. Der Appell “Fühlen Sie nichts!” ist unerfüllbar. Als Menschen im Wachzustand des Alltags fühlen und denken wir. Jede Frage und jede Handlung aktiviert beides.

Es gab durchaus Zeiten, in denen die Psychologie sich bemühte, Emotion und Kognition zu trennen. Doch die Hinweise verdichteten sich, dass das nicht sinnvoll geht. Die Gehirnforschung tat ihr Übriges. Jeder Eindruck, jede Meinung, die wir abspeichern und mit der wir jonglieren, um unseren Alltag zu bewältigen, hat (mindestens) zwei Seiten: Eine emotionale und eine kognitive. Emotion und Kognition, Vernunft und Gefühl sind untrennbar miteinander verbunden.

Vernunft oder Egoismus?

Aufgrund dieser Erkenntnis, dass Vernunft und Gefühl immer miteinander verbandelt sind, gilt: „Vernunft“ sollte weniger als kühl kalkulierendes als Gegenstück zum inneren Aufgewühltsein verstanden werden. Vielmehr ist es ein Stück des Vernunft-Gefühls-Ganzen. Dieses Ganze hat eine kognitive Seite, bei der man im Geiste klar ist. Und eine emotionale Seite, in der man Zugang zu den eigenen Gefühlen hat und sie sortiert bekommt. Wenn es gut geht.

Angesichts des Bedrohtseins der Menschheit (siehe Teil 1 dieser Serie), brauchen wir durchaus mehr Klarheit in Punkto Vernunft-Gefühls-Ganzes. Was aber soll dann das Gegenstück zu diesem Vernunft-Gefühls-Ganzen sein? Was bleibt noch übrig? Was trübt die Gefühlswelt ein? Was verwirrt den Geist? Natürlich geht es wechselseitig: Überwältigende Gefühle verhindern das klare Denken. Und das krampfhafte Festhalten an einem logischen Schluss führt dazu, dass wir berechtigte Ängste und unser Mitgefühl einfach wegdrücken können. Dann brauchen wir Ruhe und Gelassenheit. Hilfreich sind andere Menschen, die uns stärken. Und so finden wir wieder zu uns und zum adäquaten Handeln zurück.

Doch selbst, wenn das gelingt, können wir straucheln. Es gibt noch etwas anderes, das hier einwirkt, und zwar auf sehr unheilvolle Weise. Eine Kraft, die beides beschädigt. Sowohl das vernünftige Denken, als auch die vielfältige und geordnete Gefühlswelt. Eine verhängnisvolle Wirkung also. Es ist etwas, das wir uns ungern eingestehen. Denn wir sind innig mit ihr verbunden, mit unserer Selbstbezogenheit. Indem wir unsere Interessen über andere stellen, werden wir unvernünftig. Denn wir leugnen unsere gegenseitigen Abhängigkeiten. Wenn wir die deutsche Wirtschaft über alle anderen Volkswirtschaften stellen, fehlen uns die Handelspartner. Wenn alle Unternehmer nur Dumpinglöhne zahlen, mangelt es an Abnehmern für ihre Produkte. In unserer Gesellschaft kann kein Mensch ohne die anderen überleben. Die Coronakrise führte uns dies jüngst sehr konkret und drastisch vor Augen: Wenn niemand im Supermarkt die Ware abkassiert, wird es schwierig. Wenn keiner Clopapier produziert, wird es eng. Wenn die Gesundheitsversorgung in den Krankenhäusern zusammenbricht, ist das lebensbedrohlich.

Vernünftig sein, heißt daher, unser Eingebundensein in die Gemeinschaft zu bedenken. Und selbstverständlich gilt: Wenn wir unser Ego über alle anderen stellen, handeln wir oft gefühllos. Selbstbezogenheit greift also beides an: Sowohl das vernünftige Denken, als auch die reichhaltige, sortierte Gefühlswelt.

Wissenschaft ist überindividuell

Vernunft im guten Sinne hat eine Grundvoraussetzung: Das Anerkennen der Empirie. Das Würdigen der Wissenschaft, die mit ihren Methoden versucht, aktuelle Informationen über uns und unsere Lebenswelt bereit zu stellen. Dabei bemüht sie sich, der Wahrheit näher zu kommen, indem sie überindividuell vorgeht. Eine einzelne Beobachtung zählt nichts, wenn sie nicht von anderen geteilt werden kann. Das Experiment eines Forschungs-Teams bleibt ohne Belang, wenn es nicht gelingt, dieses Experiment an anderer Stelle zu wiederholen.

Insofern ist Vernunft das Ziel. Dabei ist Vernunft aber nicht ein Gegenstück zum Fühlen. Der Widerpart des Vernunft-Gefühls-Ganzen sind Selbstbezogenheit und Egoismus. Ein wichtiger Weg, um die menschengemachte Menschheitskrise zu bewältigen, ist eine veränderte Perspektive. Es ist die Perspektive vom Teil und vom Ganzen. Haben wir ein Problem, einen Streit oder Konflikt zu lösen, können wir eine naive Frage formulieren, um das Problem dingfest zu machen. Und dann können wir fragen: Entstand das Dilemma dadurch, dass wir auf eines fokussierten, was aber nur ein Teil des Ganzen ist?

Denken und Fühlen sind Teil des Menschen. Menschen sind Teil der Menschheit. Die Menschheit ist ein Teil der Natur. Mit diesem Verständnis kommen wir als Menschheit am besten durch die Krise. Miteinander. Anders geht es nicht. Zusammen wird es gehen.

Dies ist Teil 4 der Blogserie: 10 naive Fragen zum Menschen.

Teil 1 Was brauchen wir, um uns zu retten?
2: Wieso sollten wir die Menschheit lieben?
3 Gibt es echte Liebe zwischen Menschen?
(4 Warum ändert Vernunft nichts und ist doch das Ziel?)
5 Sind wir zu blöd, um zu überleben?
6 Wo ist unser Menschenbild verkürzt?
7 Warum hilft die akademische Psychologie kaum weiter?
8 Ist der Mensch im Grunde gut?
9 Kriegen wir noch die Kurve?
10 Warum sich noch engagieren?

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