10 naive Fragen: Wieso sollten wir die Menschheit lieben?

Dieser Post behandelt eine zunächst abwegig und verrückt erscheinende Idee: “Wir sollten die ganze Menschheit lieben.” Damit verbunden ist die These: “Wenn wir dies nicht schaffen, können wir uns nicht aus den Krisen befreien, die mit dem Überschreiten der planetaren Grenzen zusammen hängen.” Genaugenommen genügt es, wenn einige relevante Menschen die Menschheit lieben. Aber warum geht es überhaupt?

Absurde These: Wir sollten die Menschheit lieben

Zunächst einmal liegen die Einwände gegen diese Forderung überdeutlich auf der Hand. Diese Forderung und die ihr zugrundeliegenden Annahmen erscheint …

  1. höchst unklar (was meint “Liebe” hier genau?)
  2. angesichts von Milliarden Menschen gänzlich unpraktikabel
  3. unrealistisch
  4. letztlich sogar unmoralisch zu sein, denn „die Menschheit“ umfasst alle Diktatoren, Folterer, Tierquäler, Verbrecher dieser Erde
  5. am falschen Ende anzusetzen: Schließlich haben wir konkrete Probleme (CO2….) und Lösungen (PV…)
  6. zu langsam

Der frühere Bundespräsident Gustav Heinemann erscheint hier vernünftiger und geerdeter. Befragt, ob er diesen Staat denn nicht liebe, stellte er klar: „Ach was, ich liebe keine Staaten, ich liebe meine Frau; fertig!” Damit könnte doch wohl alles gesagt sein, oder? Dennoch bin ich davon überzeugt, dass meine zunächst verrückt klingende These der notwendig zu beschreitende Weg ist. Es gibt keinen anderen. Und es gibt keine Abkürzung.

Paulus gibt die Haltung vor

Sehen wir uns dazu zunächst an, was Liebe hier genauer sein könnte. Paulus, in der Übersetzung von Luther, gibt hier die Richtung vor. Ich meine diese Ehrfurcht gebietenden Worte, die so oft zitiert werden, beispielsweise bei Trauungen. Auch gerne bei Hochzeiten von Paaren, die sich erstmals nach der Taufe wieder in den kirchlichen Dunstkreis wagen. Wahrscheinlich wird Paulus gewählt, weil seine Worte wenig spezifisch-christliches in sich tragen. Sie lauten: „Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu.“

Brechen wir diesen Anspruch herunter auf Otto und Otta. Otto lässt seine Gummistiefel immer wieder genau dort stehen, wo er sie seiner Frau zufolge keinesfalls stehen lassen sollte. Das ist schlecht. Otta hingegen kann das Fluchen nicht lassen. Es rutscht ihr heraus. Beide finden einander nicht gut in diesen Punkten. Sie kritisieren sich. Sie streiten. Aber beide sehen letztlich darüber hinweg. Sie wissen, dass so etwas den Menschen nicht ausmacht. Dass Menschen nun einmal Fehler begehen. Andere genauso wie sie selbst. Diese – und viele andere – Eigenarten stören nicht ihre grundsätzlichen Gefühle des Wohlwollens, der Achtung, des Respekts füreinander.

Übertragen wir diesen Gedanken auf die Menschheit. Sehen wir uns als Spezies, insgesamt. Dann ist klar, dass wir uns zuweilen furchtbar dumm anstellen. Menschen können brutal und rücksichtslos sein. Eifersüchtig, kleingläubig, eigensüchtig. Menschen setzen sich aber auch für Frieden, Freiheit, Menschlichkeit ein. Gegenseitige Hilfe, Moral, großartige Kunstwerke, Humor, Milde, Großzügigkeit: Das alles gehört zu uns. Es gibt uns nicht ohne Macken – und das ist nicht gut so. Aber es ist halt so. Als Teil dieser Spezies sollten wir lernen, darüber hinweg zu sehen. Selbst wenn das schmerzt und Überwindung kostet. Es gibt einfach fantastische Menschen auf dieser Welt. Obwohl auch sie nicht in jeder Phase ihres Lebens diese Größe besitzen werden. So ist ihr Format nicht von ihrer Menschlichkeit zu trennen. Wir sind begrenzte Zeit auf dieser Erde. Verbringen wir sie nicht damit, ständig mit der Menschheit zu hadern.

Geliebte Frau, verhasste Schwiegermutter

Ich spreche von keiner romantischen Verklärung der zuweilen bitteren Wirklichkeit. Es gibt unsere guten wie schlechten Seiten. Ich behaupte nicht einmal, dass unsere guten Seiten überwiegen. Aber alle Eigenschaften hängen miteinander zusammen. Ich schlage Ihnen durchaus nicht vor, alles durch die rosarote Brille zu sehen. Sie können Ihre Frau lieben, aber Ihre Schwiegermutter hassen. Es gibt nicht nur Liebe in unserer Welt. Nur: Ohne Ihre Schwiegermutter gäbe es Ihre Frau nicht. Das sind die Fakten. Und so ist es mit der Menschheit bestellt. Wir teilen Gefühle, Gedanken, Kultur. Auch Missetäter können in der Regel Rührung, Trauer und Mitgefühl empfinden. Und wenn sie es nicht können, sind sie krank. Dies macht ihre Verirrungen verzeihlich – auch wenn wir uns vor ihrer Destruktivität schützen müssen. Uns nur die einen Menschen herauszusuchen und die anderen nicht, uns nur zu einigen unserer Eigenschaften zu bekennen, zu anderen nicht, ergibt letztlich keinen Sinn.

Die berühmte Kinderbuchautorin Christine Nöstlinger wurde einmal gefragt, ob sie alle Kinder möge. “Natürlich nicht”, sagte sie. “Ich mag ja auch nicht alle Erwachsenen!”. Dennoch erkennt man an ihren Büchern, dass sie manche Kinder und typisch kindlichen Eigenschaften wirklich mag. Man muss nicht jeden Menschen gut finden für die Perspektive, die ich hier vorschlage. Aber die Menschen, die wir lieben, sind Teil der Menschheit.

Wenn wir feine Bürgerinnen sind, uns für Frieden und Klimaschutz engagieren, hat das auch damit zu tun, dass uns Greta angesprochen oder Rezos Video begeistert hat. Dass wir Kontakt zu Greenpeace hatten oder Naturerlebnisse mit unserer Oma genießen durften. Wir sollten uns nichts auf unsere ökosozialen Werte einbilden.

Blickt man auf die Welt, insbesondere auf entscheidende Stellen des Staates und der Unternehmen, begegnen uns häufig schier endlose Dummheit, willfähriger Egoismus und riskante Kurzschlüsse. Inkompetenz, Egoismus und Lügen. Wie damit umgehen?

Die Doofen sind immer die anderen

Nun ein entscheidender Gedanke in aller Kürze: Störende Inkompetenz, Eigensucht und Niedertracht wird normalerweise dadurch angegangen, dass wir andere kritisieren und darauf hinweisen, wie es besser ginge. Vielleicht greifen wir sogar zur Gewalt, um unsere Sichtweise durchzusetzen. Wir nähren die Ilussion, dass alles anders wäre, würde man bestimmte Köpfe austauschen. Doch das ist selten der Fall, weil sie in Systeme eingebunden sind. Üblicherweise führt dieses Zeigen auf andere dazu, dass wir mit uns selbst im Reinen sind und uns einiges davon erhoffen, die Dinge so prima geordnet zu haben. Aus der Perspektive der ganzen Menschheit betrachtet, passiert jedoch folgendes: Menschen zeigen auf andere Menschen. Der eine Teil des Ganzen zeigt auf den anderen Teil des Ganzen. Von außen gesehen: Wir drehen uns im Kreis. Selbst wenn der eine Teil Recht hat – wovon ich allerdings ausgehe – und der andere nicht, ist damit leider nichts gewonnen. Zumindest nicht dann, wenn wir gemeinsam im Schlammassel sitzen, was momentan der Fall ist. Wenn wir diejenigen, die nicht mitspielen wollen, weder überzeugen noch überreden, noch per Gesetz einhegen können, dann können wir nichts erreichen.

Alle Menschen teilen ähnliche Gefühle, bilden die Welt ähnlich im Kopf ab. Wir alle sind lern- und entwicklungsfähig. Wir achten meist mehr auf uns und unsere Interessen als auf andere. Wir alle glauben an gewisse Personen, Inhalte und Werte. Wir alle haben unsere Träume und Sehnsüchte. Wir alle haben ein Bewusstsein unserer selbst. Solche Gemeinsamkeiten festzustellen, hilft weiter. Sich selbst kritisch zu sehen, nähert uns einander an. Indem ich anerkenne, dass ich Macken habe, blinde Flecken, nervige Angewohnheiten und Schwächen; indem ich mir eingestehe, dass ich zuweilen miese Gedanken hege und hinterhältige Verhaltensweisen praktiziere, öffne ich mich. Daraus ergibt sich vielleicht immer noch nicht, dass ich alle Menschen respektieren kann. Selbst da nicht, wo es wirklich angebracht wäre. Aber klar ist: Die Macken der anderen grundsätzlich auch bei sich zu sehen, führt auf einen gemeinsamen Weg.

Wenn wir tatsächlich als Menschheit auf diesem Planeten ein Problem haben, können wir es nicht lösen, indem wir vorwurfsvoll auf andere zeigen. Auch eine bessere Vision ist beschränkt wirkmächtig (wäre Berni Sanders als US-Präsidentschaftskandidat nominiert worden, hätte ich diesen Satz mit weniger Überzeugung geschrieben). Der Hauptweg muss sein, Brücken zu anderen Menschen und Überzeugungen zu bauen und gemeinsam vorzugehen.

Nur eine liebevolle Haltung ermöglicht harte Kritik

Betrachten wir uns Menschen voller Liebe, mit Langmut und ohne Verbitterung. Nur diese Haltung kann uns retten. Denn wie sonst könnten wir unsere Schattenseiten aushalten? Wie sonst könnten wir unsere Stärken würdigen? Wie sonst unsere Kräfte vereinen?

Wären wir vernünftig, hätten wir eine andere Welt. Wir würden mehr Fahrrad fahren und zu Fuß gehen, weil das gesünder ist. Wir würden Produkte kaufen, die vorzugsweise regional, bio und fair erzeugt und gehandelt sind. Wir würden Maß halten und nett miteinander umgehen. Wir würden uns gesund ernähren und ausreichend bewegen und Vorsorgeuntersuchungen nutzen. Stattdessen essen wir häufig ungesund, bewegen uns zu wenig, pflegen Risikoverhalten. Manager*innen schauen auf die nächsten Quartalszahlen, Politiker*innen auf die nächsten Wahlen, wir privat auf unser persönliches Wohlsein, auf günstige Preise und Bequemlichkeit. Der Realität ins Gesicht zu blicken heißt, unsere schlechten Eigenschaften und unsere Borniertheit zu akzeptieren. Wir sind so, wie wir sind. Ein liebevoller Blick hilft, dies zu akzeptieren.

“Liebe”, “Selbstkritik” und “Akzeptanz der Realität” gehören zusammen. Auch bei Paaren macht Liebe nur am Anfang „blind“. Nach dieser ersten Zeit sehen sie sich durchaus realistisch. Und bleiben dennoch oft zusammen, achten und respektieren sich. Mitsamt ihren Fehlern und Macken.

Hoffnung statt Resignation

Der Schluss, „wir Menschen werden uns nie ändern“, wäre falsch. Umgekehrt gilt: Wir haben alles, was wir brauchen. Wir besitzen Vernunft, Disziplin, Energie. Wir können sogar aus persönlichem Egoismus Leistungen für die Gesellschaft generieren. Per Akzeptanz von Führung gelingt es uns gemeinsam, große Werke zu schaffen. Traumata überleben wir, indem wir sie verdrängen. Sogar Egoismus, Unterordnung und Verdrängung sind daher nützliche Merkmale unserer Spezies. Wir dürfen sie durchaus anerkennen. Wir sollten nur richtig mit ihnen umgehen

Daher müssen wir uns gar nicht ändern. Es ist lediglich unsere Aufgabe, ein paar Dinge ein wenig anders zu machen. Zwar in grundlegender Form, aber durchweg menschengerecht. Immerzu auf unsere Fehler fixiert zu sein, führt in die Verzweiflung. Nur die Mängel der anderen zu sehen, bindet Energie in Scheingefechten. Großzügig und gelassen sein, das hilft mehr. Die Potenziale anerkennen, die wir mitbringen und sie richtig einordnen, das ist der Weg. Ein Weg voll Liebe zur eigenen Spezies. Sie ist nötig, wollen wir unter akzeptablen Bedingungen überleben.

Meinungsstreit und Scheingefechte

Wenn wir uns liebevoll und als Menschheit betrachten, hat das erhebliche Konsequenzen. Hier sei nur ein Beispiel erwähnt. Neulich saßen Carla Reemtsma von Fridays4future und ein paar andere Gäste mit anderen politische Positionen bei hart aber fair zusammen. So etwas wird üblicherweise als Talk-Show genannt und als Meinungsstreit verstanden. Aus der hier vorgestellten Perspektive heraus betrachtet, treffen diese Bezeichnungen nicht zu.

Es lässt sich nicht leugnen, dass es am Rande auch ein Zwist zwischen Personen und damit um Meinungen war. Aber hauptsächlich wurde dort etwas als Diskussion getarnt, was keine Diskussion sein kann. Wenn die Fridays sich auf den wissenschaftlichen Konsens beziehen, ist diese Position nicht diskutabel. Wenn sie feststellen, dass der Wirtschaftsumbau zu langsam geht, ist das nicht diskutabel. Es ist Fakt. Die sich aus diesen Fakten ergebenden Folgen können diskutiert werden. Aber jeder politische Vorschlag, der ihnen nicht Rechnung trägt, ist Nonsens. Auf der persönlichen Ebene gesehen wäre es ein Ablenkungsmanöver. Aber aus der hier vorgetragenen Perspektive ist es vorwiegend Nonsens.

Es wäre ja auch keine sinnvolle Diskussion wert, würden wir darüber streiten, ob die Erde nun rund oder flach ist. Eine Talk-Show mit diesem Thema wäre eine Groteske, absurdes Theater. Wer wissenschaftlich fundierte Fakten in Zweifel zieht, muss wissenschaftliche Forschung betreiben und andere Erkenntnisse gewinnen und vorlegen. Ein wissenschaftlicher Disput ist nicht Talk-Show-geeignet.

Der Unterschied zwischen sinnvoller Diskussion und Nonsens ergibt sich aus der Perspektive auf die Menschheit als Ganzes. Die Menschheit in Gestalt der Wissenschaft weiß Bescheid! Die Menschheit ist bedroht und muss eine Lösung finden. Aus ähnlichen Gründen ist die momentane Art und Weise, wie die Krise in den meisten Ländern in Politik übersetzt wird, zum Scheitern verurteilt. Da es immer Klimaleugner*innen gibt und geben wird, ist die einzig mögliche Lösung zwecks Abgrenzung und entsprechend notwendigen harten Maßnahmen und trotzdem nötigen Wahlerfolgen überparteilich.

Nur aus dieser Perspektive, der Menschheit als Ganzes, heraus lässt sich die Realität erfassen. Und nur aus einer liebenden Haltung heraus lässt sie sich aushalten. Wir können und müssen Brücken bauen und unsere Kräfte vereinen, um gemeinsam erfolgreich zu sein. Die Zeit des Gegeneinanders ist vorbei.

Dies ist Teil 2 der Blogserie: 10 naive Fragen zum Menschen. Unten stehen die weiteren Fragen:

Teil 1 Was brauchen wir, um uns zu retten?
(Wieso sollten wir die Menschheit lieben?)
3 Gibt es echte Liebe zwischen Menschen?
4 Warum ändert Vernunft nichts und ist doch das Ziel?
5 Sind wir zu blöd, um zu überleben?
6 Wo ist unser Menschenbild verkürzt?
7 Warum hilft die akademische Psychologie kaum weiter?
8 Ist der Mensch im Grunde gut?
9 Kriegen wir noch die Kurve?
10 Warum sich noch engagieren?

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