Das Ich-Entwicklungsmodell und Handtücher, die Liegen besetzen

Kreuzfahrtschiff Dream, Oberdeck. Fünf bayrische Buben unterhalten sich über die Eroberung einer freien Liege. Eine typische Situation, viele Liegen sind mit Handtüchern besetzt, ärgerlich. Was halten Sie von dem Problem? Welche Lösung fänden Sie richtig?

Die fünf Männer um die dreißig argumentieren auf unterschiedlichen Ich-Entwicklungsstufen. Das Modell der Ich-Entwicklung wurde hier beschrieben.

Insgesamt stellt es fest, dass

  • sich Menschen auf einer bestimmten Stufe befinden
  • sich von einer Stufe zur nächsten entwickeln
  • die letztlich im Leben erreichte Stufe individuell unterschiedlich ist
  • die Stufen ein immer komplexeres Selbst- und Weltverständnis bedeuten.

Zunächst der Dialog – viel Spaß beim Lesen und beim ersten Bilden eines Eindrucks. Dann folgen weitere Hinweise.

Ich-Entwicklung im Beispiel

Ratlos stehen die fünf Freunde an Deck der Dream, ihres Kreuzfahrtschiffes. Sie wollen sich einige Zeit auf den aufgestellten Liegestühlen in der Sonne entspannen, aber nichts ist frei.

Sepp: Sappalot, es ist ein ewiges Problem hier, du kriegst einfach keine Liege! Alles besetzt! Mit Handtüchern!
Franz: Dabei wäre es so einfach: Du stellst einen Steward daher, der das beaufsichtigt und fertig.
Veit: Das wäre gut. Dann könnten wir hier immer liegen, wenn wir wollen.
Sven: Tja, stattdessen stehen wir hier rum und warten auf eine Liegemöglichkeit. Alles, was an uns braun wird, sind Gesicht und Hände. Und keine Entspannung gibt’s, weil wir stehen müssen. Aber so ein Steward als Aufsicht hat ja auch Nachteile. Das hätte sowas von Aufseher, Wärter, Seehofer, ich weiß nicht.
Veit: Wobei unser Seehofer einen guten Job macht. Bei uns, in Bayern.
Achim: Ich überlege gerade, wieso sind überhaupt zu wenig Liegen an Board…?
Franz: Ja, eine Sauerei ist das! Schließlich haben wir alle viel Geld bezahlt für den Tripp!
Achim: Schon, klar. Aber verstehts ihr, was ich meine? Klar, da ist nicht genug Platz für alle auf den Liegen. Aber es wollen ja gar nicht alle gleichzeitig Sonnenbaden. Das Problem sind doch letztlich die Handtücher, die da liegen, oder?
Sepp: Gerecht wäre z.B. wenn jeder eine bestimmte Zeit pro Tag hätte.
Sven: Obwohl, der eine will vielleicht 4 Stunden in der Sonne bruzzeln, der andere nur 2. Was bringt es dann, wenn jeder 3 dürfte? Dann hätte keiner, was er wollte. Oder eine Stunde stände wieder eine Liege leer herum, obwohl jemand gerne drauf liegen würde.
Franz: Dann meldest dich halt an, mit deinem Sonnenbadewunsch. Eine Stunde, zwei Stunden, Eintrag auf ne Liste. Und der Steward achtet drauf, dass das auch klappt.
Sepp: Diese Aufseher-Idee ist aber auch schon ein bißchen heftig, da hat Sven schon recht.
Achim: Also, vielleicht braucht es keinen Aufseher und keine Liste. Das Problem sind doch eher die Handtücher. Und vielleicht sogar, dass die Handtücher von uns als Platzhalter respektiert werden.
Sven: Ich glaube, es gibt eine neue Regelung, dass du in manchen Ländern Strafe zahlen musst, wenn du eine Liege mit Handtuch besetzt.
Veit: Also, wenn jetzt einfach ein paar Liegen frei wären, dann wäre doch alles gut, echt!
Franz: Aber hallo, stattdessen quatschen wir hier rum! Das geht mir auf den Zeiger!
Sepp: Ach gucke mal, da gehen welche: Platz für uns alle. Irgendwie siegt dann doch die Gerechtigkeit.
Sven: Und die Wartezeit hat sich gelohnt.
Veit: Hauptsache, dass endlich die Liegen frei sind. Und wir können es uns jetzt schön gemütlich machen!

Zusammenfassung der Positionen

Es sind hier fünf verschiedene Ich-Entwicklungsstufen präsent – sie auseinander zu halten und einigermaßen passend zuzuordnen, ist außerordentlich schwer. Deshalb als nächste Hilfestellung die Zusammenfassung der Argumente.

Veit: Er möchte gemeinsam mit seinen Freunden auf dem Deck liegen und sich sonnen. Für allgemeine Lösungsmodelle interessiert er sich weniger. Das ist für ihn auch zu abstrakt und kompliziert. Den CSU-Politiker Seehofer möchte er als gemeinsamen Landesvater verteidigen.

Franz: Hier präferiert er eine Lösung, die den Steward als Ordnungsmacht mit einbezieht. Ob das zugleich zu viel autoritäre Macht an Bord bringt – das ist ihm relativ gleich. Er denkt auch weniger in solchen allgemeinen, abstrakten Kategorien. Das interessiert ihn nicht, er sucht nur eine konkrete Lösung für hier und jetzt. Generell vertritt er im Leben zwar eigene Positionen, die allerdings nicht allzu ausdifferenziert sind. Häufig sind sie einfach, am Entweder-Oder orientiert. Ein weiteres Argument, das er anführt: Der hohe Ticket-Preis und der aus seiner Sicht zu geringe Gegenwert an dieser Stelle. Er ist überzeugt, dass in einer gerechten bzw. gut organisierten Welt ein hoher Preis einer hohen Leistung entsprechen sollte.

Sepp: Er hat generelle Werte entwickelt, nach denen er seine Urteile fällt. Sein Selbst- und Weltbild ist differenziert. „Gerechtigkeit“ ist einer der für ihn wichtigen Werte. So kommt er auch auf den Lösungsansatz, dass jedem Passagier ein bestimmtes Quantum an Zeit auf der Liege zugeordnet wird. Ein weiterer könnte „Demokratie“ oder „Freiheit“ sein – jedenfalls ein autoritätskritischer Wert. Er bildet sich seine Meinung, indem der die Argumente und Ideen in Bezug auf seine Werte setzt. Sodann beurteilt und gewichtet er sie und bildet sich in dieser Weise eine Meinung.

Sven: Er sieht die Welt und sich darin sehr differenziert und vieles relativ. Auch er hat seine Werte, nach denen er urteilt. Gleichzeitig passt er seine Urteile flexibel der jeweiligen Situation an. So erkennt er in der Steward-Idee sofort, dass dies den Aufbau einer Autorität bedeuten würde. Und die Idee von Sepp „jeder 2 Stunden“ relativiert er sofort, indem er dies weiter denkt, in die Praxis überträgt und das Ergebnis einem Check unterzieht. Auch Sepps Urteil, dass die Gerechtigkeit irgendwann siege, gewinnt er sofort einen anderen, pragmatischen und zusätzlichen Aspekt ab: Die Wartezeit hat zum Ergebnis beigetragen.

Achim: Seine Beiträge kreisen um die Frage, wie die Handtücher als Platzhalter funktionieren können. In seinem ersten Statement erkennt man kaum, was ihn da beschäftigt. Die Idee der Handtücher als Platzhalter scheint ihn umzutreiben und er nähert sich ihr schrittweise. Es sind nicht nur die Handtücher, denkt er, sondern auch die Leute, die sie als Platzhalter respektieren. Er reflektiert hier die Rolle von sich und seinen Kumpeln und bringt diesen Aspekt ein. Obwohl sie nur neben den Liegen stehen und warten, tragen auch sie zum Ergebnis des Wartens und der knappen Liegen bei, denn auch sie respektieren ja die Handtücher als Platzhalter. Nebenher merkt man, dass er die autoritätskritischen Überlegungen Richtung Steward teilt. Aber wenn es eine andere, grundsätzlichere Lösung gäbe, würde die besondere Rolle des Stewards ohnehin unnötig. So hört er sich die Lösungsvorschläge und Ideen der anderen an, findet sie aber letztlich weniger überzeugend oder weiterführend und kommt so schnell wieder auf die Handtücher und deren soziale Akzeptanz als Ausgangspunkt des Problems zurück.

Auflösung und Hintergründe des Handtuchproblems

Haben Sie ein Gefühl dafür, in welcher Reihenfolge sich die fünf Freunde aufstellen müssten, wenn Sie der Stufe nach aufgereiht wären? Es sei zunächst verraten, dass die Reihenfolge bei Veit beginnt und dann über Franz, Sepp, Sven zu Achim führt. Würden Sie Veit der höchsten und Achim der niedrigsten Ich-Entwicklungsstufe zuordnen? Oder umgekehrt?

Obwohl in der Vereinfachung immer eine Menge Unschärfe liegt und nur um Ihnen ein ungefähres Gefühl für die Befunde der Ich-Entwicklungs-Forschung zu geben, hier eine stark reduzierte Zusammenfassung der Personen:

Veit in der Entwicklungsstufe E4 ist sehr an der Gemeinschaft interessiert, in der er sich aufgehoben fühlt und deren Normen er akzeptiert.

Franz in E5 bildet sich eine eigene Meinung (auch in Abhebung zu Gemeinschaftsnormen), die allerdings häufig im Entweder-Oder verhaftet ist.

Sepp in E6 löst sich weiter von der Orientierung an anderen, wird noch eigenständiger im Urteil. Seine Blickweise ist an Werten ausgerichtet, die er für sich als richtig erachtet.

Sven in E7 relativiert die Werte auch schon mal oder stellt grundsätzliche Konventionen in Frage. Sein Erleben ist noch differenzierter und komplexer.

Achim in E8 folgt als noch spätere Stufe zwar Werten, die er aber auch gleichzeitig je nach Situation relativiert. Anhand von übergeordneten Prinzipien kommt er dennoch zu klaren Einschätzungen der Lage. Dass er von früheren Stufen aus gesehen schwer verständlich wirkt, ist eine Folge des Stufenunterschieds und eine Anforderung an ihn, sich näher zu erklären, um diese Unterschiede möglichst zu überbrücken.

Achim ist in unserem Beispiel recht intellektuell unterwegs, was er nicht zwangsläufig sein müsste in E8. Dennoch ist hier festzustellen, dass er mit seiner Wahrnehmung und Denkweise des Handtuch-Problems sehr nahe an die Lösung kommt, die ein Soziologie-Professor dazu fand.
Heinrich Popitz bemerkte, dass sehr viel weniger Liegen nötig sind, als Passagiere mitreisen, solange keine Handtücher benutzt werden, um Liegen zu besetzen. Schließlich wollen nicht alle zu gleicher Zeit in der Sonne sein. Die Unsitte, die Liegen mit Handtüchern zu besetzen, statt mit Menschen, führt zur entscheidenden Verknappung der Ressource. Plötzlich genügt die gleiche Anzahl an Sonnengelegenheiten bei gleichbleibender Passagier-Zahl bei weitem nicht mehr. In der weiteren Forschung entdeckte Popitz, dass die Handtuch-Reserviermethode nur dann wirken kann, wenn die anderen Menschen die abwesenden Handtuchbesitzer und ihre Methode verteidigen.

Svens Einwurf zum Thema, dass jetzt Strafe gezahlt werden muss, ist übrigens Realität. An den Stränden Sardiniens und der Toscana kontrolliert die Polizei neuerdings das diesbezügliche Verhalten der Urlauber. Sie beschlagnahmt Handtücher und Liegen, sofern sie nachts (für den nächsten Tag) an den Strand gestellt wurden und verhängt auch schon mal ein Strafgeld in Höhe von 200 Euro.

Habe ich Sie neugierig auf weitere Informationen zum Modell der Ich-Entwicklung gemacht? Lesen Sie das hochspannende Interview mit Dr. Thomas Binder.

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