Die Psyche einzelner, die Gesellschaft, das Wirtschaftssystem und das politische System wirken zusammen und erbringen am Ende ein Ergebnis: Die Menschheit vernichtet sehenden Auges die eigenen Lebensgrundlagen. Dieses Phänomen gilt es zu klären und anzugehen.
Vorgeschichte: Die überkochende Milch
Wenn Sie einen Topf mit Milch auf den Herd stellen und erhitzen, passiert lange wenig. Doch ab einem bestimmten Moment geht es rasend schnell. Dann müssen Sie das Gefäß sofort von der Platte nehmen.
In dieser Situation befinden wir uns heute: Viele Kipppunkte sind erreicht. Quasi: Es kocht über. Statt um Milch geht es um unsere Atmosphäre. Aber die Dynamik ist dieselbe. Leider hat niemand die Macht, den Schalter umzulegen. Wenn wir unsere Situation in das Bild des Milchtopfes bringen: Wir alle erzeugen mit vielen Feuern die Hitze.
Lange Zeit hockte die Menschheit unter dem Topf. Und der Abstand zu dessen Boden war groß. Die Menschen wärmten sich an kleinen Holzfeuern. Alles ging gut. Die erzeugte Wärme reichte gerade so eben für ein hartes Leben von relativ wenigen Menschen.
Doch dann kam eine ungeheure Beschleunigung. Dafür verantwortlich sind zwei Gründe: Erstens hatten wir die Idee, Brennstoffe aus dem Boden zu graben. Zweitens erfanden wir den großen Brennstoffhandel. Dazu gehörten der Einsatz von Maschinen und ein neues, dynamisches Wirtschaftssystem.
So wuchs die Menschheit an. Immer mehr Feuer wurden immer größer. Im Zentrum sind die persönlichen Feuer einzelner Menschen heute mehr als tausendmal so groß, als diejenigen der ärmeren Menschen am Rand. Obwohl die stellenweise schon überschäumende Milch ausgerechnet diejenigen zuerst trifft, die bescheiden heizen. Die meisten Menschen mit großen Feuern sind in der einen oder anderen Weise zugleich an der Brennstoffgewinnung und -verteilung beteiligt.
Klimawissenschaftler:innen haben schon lange gewarnt und immer präziser beschrieben, was da über uns vorgeht. Aber Leugnisten sagten, es gäbe keine Gefahr. Und falls doch, hätten unsere Feuer nichts damit zu tun. „Solange du dir nicht die Finger verbrennst, heize ruhig weiter“.
Andere erkennen das Problem an: Ja, die Milch kocht über. Ja, es liegt an unseren Feuern. Aber dann suchen sie danach, wessen Feuerstelle größer als ihre eigene ist und verlangen, dass diejenigen sich zuerst bescheiden sollten. Oder sie verkünden, wir hätten noch etwas Zeit. Jetzt, wo doch – abgesehen von diesem unangenehmen Ökoproblem – alles so gut läuft. Einige meinen, die Wissenschaftler:innen sollten bitte noch sehr viel genauer erforschen, wie man sich dieses Überkochen präzise vorstellen könne, bevor Handeln sinnvoll sei. Während oben der Schaum schon am Rand wabert. Nicht selten sind Menschen, die so argumentieren, dicke im Brennstoff-Geschäft.
Einige Staaten führen Regeln ein, so dass manche Feuer nur noch eine bestimmte Größe erreichen dürfen. Dabei lassen sie viele Ausnahmen zu. Brennstoffgewinnung und -handel greifen sie nicht an. Im Gegenteil, sie fördern ihn sogar noch weiter.
Manche Wissenschaften konzentrieren sich darauf, immer noch ein Stück genauer zu beschreiben, wie wir so versessen aufs Zündeln und Heizen sein können. Oder sie feilen an Appellen, es bei kleineren Feuern zu belassen. Sie erklären, dass auch sie die notwendige Wärme abgeben würden. Und sie zeigen Beispiele auf, dass immer mehr Menschen sich dem Trend zurück zur Wärme in Maßen anschließen. Und es ist richtig: Würden alle sich persönlich einschränken, wäre der Brennstoffhandel kein Problem.
Bei der Idee, v.a. auf den privaten Konsum zu achten, stimmen sogar die Brennstoffförderer zu. Ja, Menschen sollen bitte persönlich Brennstoff sparen, sagen sie. Warum? Weil sie damit ausgezeichnet von ihrem eigenen Geschäft ablenken können.
Die immer genauere Analyse des Brennstoffhandels wird von anderen Wissenschaften betrieben. Manche Menschen meinen, man müsse nur diesen Handel verstehen und kritisieren, er sei das wahre und einzige Problem.
Aber sie berücksichtigen nicht, dass in uns allen offenbar der Drang zur wohligen Wärme und zum Profit existiert. Haben Menschen das eine Glutnest ausgetreten, entfachen andere Menschen das nächste.
Ich meine, wir brauchen einen Blick aufs ganze System. Auf unsere inneren Antriebe genauso wie auf den Brennstoffhandel. Einen Blick und ein Handeln, das der akuten Notsituation der gerade überkochenden Milch angemessen ist. Das immer wieder deutlich auf die nahe Gefahr verweist und sie auch bei allem Verve, positive Zukünfte zu entwickeln, nicht vergisst.
Die Situation unserer Spezies als Ganzes
Die Klimawissenschaft beschreibt hervorragend die Bedrohung. Und was wir dagegen tun können. Unser Verhalten ist die andere Seite, um die es nun gehen muss.
Wir Menschen sind sowohl die Ursache als auch die Lösung der globalen Ökokrisen. Die Menschheit bzw. das Denken, Fühlen und Handeln von Menschen müsste somit in den Mittelpunkt der Debatte rücken. Dazu gehören die von der Menschheit geschaffenen Systeme, die die Krise befeuern. Unsere Wirtschaftsweise, unsere politischen Systeme.
Wir brauchen eine Perspektive, die das Große und Ganze in den Blick nimmt. Im Folgenden will ich diese Perspektive, „Homo sapiens science“ (HSS) oder auch “Überlebenswissenschaft” nennen und grob skizzieren.
Die Homo sapiens science ist werteorientiert
Jede Wissenschaft ist werteorientiert. Zum Beispiel, indem sie bestimmte Methoden der Erkenntnisgewinnung priorisiert. Indem sie stets von Erkenntnissinteressen geleitet ist. Sinnvoll ist es deshalb, die Erkenntnisinteressen darzulegen und zu begründen. Dazu gehört auch festzulegen, wie eine Wissenschaft ihre Hypothesen gewinnt und welche sie zuerst untersucht (Dies gilt auch dann, wenn diese Fragen kaum beachtet werden und nur implizit wirken) (vgl. dazu Schmidt-Salomon, 2019)
Was in der vorangestellten Geschichte als überschäumende Milch bezeichnet wurde, ist die Aussage führender Klimawissenschaftler:innen und Biolog:innen, dass der Verlust der menschlichen Zivilisation das wahrscheinlichste Ergebnis der Ökokrisen sei. (Utopia, voiceofaction deutsch, englisch). Der Satz vom Verlust der menschlichen Zivilisation bedeutet konkret unermessliches Leid von Milliarden (!!!) Menschen!!!
Die HSS stellt sich in dieser Notsituation in den Dienst des Überlebens. Daraus ergeben sich ihre Prioritätensetzung und ihre Themen. Die HSS sucht immer nach dem größten Hebel fürs Überleben.
Dabei wird die HSS allem skeptisch gegenüberstehen, was es bisher schon gab. Diese kritische Würdigung müssen auch gute Ansätze erfahren – denn bisher hat nichts wirklich funktioniert.
Neben dem neuen Blick aufs Ganze können bewährte Erwartungs- mal Wertmodelle und Modelle der Risikoabschätzung genutzt werden, um die erfolgversprechendsten Ansätze, die größten Hebel, zu identifizieren (vgl. “effektiver Altruismus“).
Die Homo sapiens science ist aktionsorientiert
In Zeiten einer galoppierenden Krise können wir uns keine Wissenschaft als reines Ringen um abstrakte Erkenntnisse mehr leisten. Da die HSS dem Überleben verpflichtet ist, aber wir auf dem Pfad des Nicht-Überlebens unterwegs sind, kann Forschung nicht von Aktion getrennt werden. Zum Beispiel wird es ein probates Mittel sein zu erforschen, welche Aktionen die erfolgversprechendsten sind.
Es könnte primär sein zu ergründen, wie die Psyche mächtiger Politiker:innen funktioniert und beeinflusst werden kann – statt zu verstehen, wie einzelne Wähler:innen ticken. Der Dienstwagen des Politikers ist ein kleiner Hebel. Seine politischen Entscheidungen, die den Fuhrpark der halben Nation beeinflussen, ein großer.
Alle Veröffentlichungen, die Ergebnisse der HSS erläutern, informieren zugleich, in welcher Situation wir grundsätzlich sind. Erkenntnisse, die ausschließlich „unterhalb des Topfes“ gelten, fallen letztlich in die Kategorie Ablenkung. Gerade, wenn sie in der Absicht gewonnen wurden, engagierten Menschen ein Werkzeug an die Hand zu geben, kann dies gefährlich sein. Denn in diesem Fall wird die Ablenkung noch mehr Kraft entfalten.
Aktionen verweisen gerne auf die HSS. Die HSS trägt dazu bei, die größten Hebel für Aktionen zu finden, sie anzustoßen und zu unterstützen.
Die Homo sapiens science orientiert sich an der materiellen Realität
Trotzdem unser Verhalten beleuchtet werden soll, darf nicht aus dem Blick geraten, wie viel Treibhausgase ausgestoßen werden. Diese Menge ist es, die die Katastrophe vorantreibt.
Wie ist der aktuelle Stand an Emissionen? Pro Kopf, pro Industriezweig, pro Land, global? Das sind wesentliche Daten für die HSS, die mit den Erkenntnissen über das menschliche Verhalten verbunden werden müssen.
Der Gedanke, dass Industrieländer ihre CO2-Emissionen einfach kompensieren könnten, statt ihren Lebenswandel zu ändern, irritiert viele Klimaengagierte. Aber lediglich 450 Euro Kompensation entsprechen (heute noch) dem Diesel, der 70.000 km Fortbewegung per Verbrenner-Pkw ermöglicht.
Wenn wir diesen Befund ignorieren, nur weil er uns persönlich missfällt, sind wir im unwissenschaftlichen Bereich unterwegs.
Selbstverständlich hätte es beträchtliche negative Wirkungen, wenn wir uns schlicht weigern würden, den eigenen Lebensstil zu ändern und uns einfach freikauften. Kaum denkbar, dass wir zu denen, die die Klimakrise gar nicht verursachten, sagen, „fangt ihr doch an mit sparen!“. Heizt ihr weniger, wir feuern ungebremst weiter. Und auch das Argument „die mit den größten Feuern müssen beginnen“ (wir tun solange nichts) ist nicht zu rechtfertigen.
Dennoch ist die Frage der Kompensation damit nicht erledigt. Nachdem die Politik in den Industriestaaten es Jahrzehnte lang versäumt hat, Wirtschaft und Gesellschaft umzubauen, ist die Situation jetzt die: Es bräuchte eine Vollbremsung mit sofortiger Kehrtwende. Das ist faktisch nicht zu machen. Hier muss die Kompensation eine Brücke sein. Selbst die größte Entschlossenheit, den Umbau schnellstmöglich zu organisieren, genügt jetzt nicht mehr.
Doch wie verhält sich die materiell notwendige Kompensation zu ihren mentalen Nebeneffekten? Und: Wie kompensieren wir, wie bauen wir um? Genau diese Fragen müsste die HSS klären.
Die Homo sapiens science orientiert sich an der geschichtlichen Realität
Der Treibhauseffekt wurde vor fast 200 Jahren entdeckt. 1957 richtete Charles David Keeling die CO2-Messstation auf dem Mauna Loa auf Hawaii ein. 1972 erschien der Bericht „Die Grenzen des Wachstums“, 1987 der Brundtland-Bericht. 1992 wurde in Rio de Janeiro die „Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen“ verabschiedet. 1997 gab es die wichtige UN-Klimakonferenz in Kyoto, 2009 in Kopenhagen, 2015 in Paris.
In all diesen Jahren gelang es der Klimaforschung, das Desaster immer genauer vorherzusagen. Und sie zeigte Auswege auf. Doch die Emissionen stiegen weiter.
Wir hatten und haben die Umweltbewegung und das Engagement von Politiker:innen wie Gro Harlem Brundtland, dem „Solarpabst“ Hermann Scheer und Al Gore. In jüngster Zeit verdanken wir der großartigen Greta Thunberg, der weltweiten Klimabewegung von FridaysForFuture, Exctinction Rebellion und vielen weiteren effektiven Druck auf die Politik. Gerade durch die Ereignisse der jüngsten Zeit fühlen sich viele ermutigt. Kleine und größere Erfolge werden mehr und gemeinsame Aktionen fühlen sich gut an. So entsteht der Eindruck, wir könnten es schaffen, das Notwendige zu erreichen. Doch die Emissionen stiegen und steigen global immer weiter.
Nicht einmal die Corona-Delle ändert etwas daran – wobei diese natürlich mit einer zukunftsorientierten Politik ohnehin nichts gemein hat, sondern pures Chaos bedeutet. Übrigens genau dieses Chaos, das uns erwartet, wenn die Politik nicht schnellstens ins Handeln kommt und die Zukunft gestaltet (bereits im Dezember 2020 lagen die globalen Emissionen schon wieder über denen im Vor-Corona-Dezember 2019!)
Wir können insgesamt feststellen, dass sich durch die Politik über mehr als vier Jahrzehnte nichts an der immer weiter zunehmenden Gefahr der Ökokrisen geändert hat. Selbst heute noch “spielen wir Realität”. Um die Vor-Geschichte aufzugreifen: Während über uns die Milch am Rand des schützenden Topfes schäumt, ändert sich bei uns unten kaum etwas. Wir fördern und verteilen die Brennstoffe, betreiben unsere Feuer. Die Medien unterhalten uns. Zuweilen gerät eine Meldung aus der Klimawissenschaft in die Nachrichten; doch dann gehen Amüsement und Ablenkung weiter.
Die Journalistin Sara Schurmann thematisiert seit einigen Monaten immer wieder auf Twitter, wie sie auch schon in den Jahren zuvor alle Fakten kannte. Aber dann, erst als sie diese Fakten wirklich auf ihre eigene Zukunft bezog und mit ihrem Leben verknüpfte, veränderte sich ihre Perspektive. Genau an diesem Punkt muss auch die HSS einsetzen.
Es geht darum, dass die Psyche einzelner, die Gesellschaft, das Wirtschaftssystem, das politische System zusammenwirken und zusammen erforscht werden. Denn das Ergebnis erst dieser Wechselwirkungen ist: Die Menschheit vernichtet sehenden Auges die eigene Lebensgrundlage.
Orientierungspunkt Astrophysik
Der Astrophysiker Adam Frank hat in “The Light of the Stars” 2018 argumentiert: Milliarden lebensfreundlicher Planeten im Universum machen es unwahrscheinlich, dass wir die erste technische Zivilisation sind. Er meint: Sehr viel wahrscheinlicher, als dass wir tatsächlich die ersten sind, sei dies: Es gab schon viele vor uns. Doch es gibt sie nicht mehr, denn sie vernichteten – oft per Klimawandel – ihre Zivilisation selbst. Die Größenordnung dieser Perspektive passt zur HSS. Und sie macht plausibel, was eigentlich schon aus der Aussagenlogik hervorgeht: Die Tatsache, dass bisher alle Ankündigungen des Weltuntergangs in die Irre führten, rechtfertigt leider nicht den Schluss, dass auch die aktuelle Vorhersage der Katastrophe falsch ist.
Es erscheint uns unrealistisch, dass es diesmal wirklich ernst ist, weil uns ein Beispiel dafür fehlt. Aber vielleicht teilten schon viele andere technische Zivilisationen das Schicksal, welches uns gerade droht.
Aktionen für die Wald-Bau-Pumpe
Die Zukunft wird viele Neubauten bringen – was in Stahl-Beton gegossen fatal wirkt. Gebäude und der Bausektor sind zusammen für 40 % der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich. Zudem wird der benötigte Bausand knapp.
Holz dagegen nimmt während des Wachstums CO2 auf. Holzbauten speichern es langfristig. Massenhafter Holzbau wäre daher eine elegante Lösung für negative Emissionen. Wir brauchen keine teuren Apparate, die zu nichts anderem dienen, als der Atmosphäre CO2 zu entziehen. Wir müssen uns nicht damit herumplagen, wie das CO2 anschließend sicher versorgt werden kann. Wir lassen einfach die Natur arbeiten und bauen uns Häuser draus – finanziert von den Menschen oder Unternehmen, die darin wohnen oder arbeiten wollen. Alle 30 Jahre kann geerntet werden, Holz gibt es genug (Vortrag Schellnhuber).
Da diese Lösung so genial und überzeugend ist, wäre ein Thema für die HSS, dieses Modell bekannt zu machen und zu propagieren. Ferner wäre zu klären: Warum diskutieren wir eher hochtechnische, (aktuell) unrentable Maschinen der CO2-Abscheidung als traditionellen Holzbau? Wer ist dafür verantwortlich und wie lässt sich dies schnellstens ändern?
Natürliche Kraftquellen, Fossillobbyist:innen und das Grundproblem
Deutlich neuer als Holzbau aber ausreichend etabliert sind die moderne Nutzung von Sonne und Wind, unserer natürlichen Kraftquellen. Der Ausbau wird politisch blockiert. Selbstverständlich ist es hier wichtig, die „Klimaschmutzlobby“ zu kennen (so der Titel des Buchs von Susanne Götze und Annika Joeres von 2020 zum Thema).
Für die HSS genügt es aber nicht, die Lobbyist:innen der Fossilindustrie zu identifizieren. Denn die Perspektive der HSS ist, dass diese Menschen ihren Verhaltensspielraum und Egoismus genauso ausnutzen und ausleben, wie viele andere es an ihrer Stelle tun würden (wobei die Verantwortung einzelner selbstverständlich trotzdem besteht).
Die Perspektive aufs Gesamte sagt, dass weder Problem noch Lösung an einzelnen Menschen haftet. Würde ein verantwortungslos handelnder Minister durch eine Ministerin derselben Partei ersetzt, könnte es besser werden. Aber auch schlechter. Am wahrscheinlichsten bleibt die Politik insgesamt so, wie sie ist. Dazu kommt: Hinter einzelnen Minister:innen stehen tausende Parteimitglieder und Millionen Wähler:innen.
Kapitalistische Wirtschaftsweise
Ist grünes Wachstum möglich? Forscher wie Niko Paech bestreiten dies. Besonders klar argumentiert hier Ulrike Herrmann, die Wirtschaftsredakteurin der taz. Statt einem Studium der Ökonomie, wie man es erwarten könnte, absolvierte sie nach einer Banklehre ein Geschichts- und Philosophiestudium – was wohl zum Teil ihre originellen Ansichten erklärt.
Um ihre Befunde und Deutungen zu verstehen, sind Bemühen und Vorstellungskraft erforderlich. Hat man diesen Einsatz allerdings gebracht, fällt auf: Erstens klingt alles sehr schlüssig. Zweitens gibt es zwar unter den Ökonom:innen viele Kritiker:innen, aber sie scheinen oft gar nicht auf ihre Argumente einzugehen, sondern das Thema zu meiden.
In jedem Fall vertritt Ulrike Herrmann eine zur HSS kompatible Sicht der Dinge, indem sie radikal, umfassend und unerbittlich denkt – ohne Rücksichtname darauf, ob uns die Ergebnisse gefallen oder nicht.
Der Kern ihrer Argumentation: Der Kapitalismus ist nicht auf Ungerechtigkeit und Ausbeutung angewiesen, wohl aber – und zwar unbedingt – auf quantitatives Wachstum. Ohne Wachstum funktioniert unser Wirtschaftssystem nicht. Wachstum heißt: Menschliche Arbeit wird durch Maschinen ersetzt, weil dadurch mehr Output entsteht.
Dadurch wächst die Wirtschaft – und damit auch der CO2-Ausstoß. („Grünes Wachstum“ ist kein quantitatives Wachstum. Es funktioniert daher in diesem Sinne nicht. Wenn wir beispielsweise beschließen, die medizinische Versorgung zu stärken, haben Pfleger:innen mehr Geld. Andere weniger. Das gleiche passiert, wenn wir über ein Grundeinkommen umverteilen. Umverteilung ändert nichts daran: Quantitatives Wachstum ist nötig. Das Wachstum wird durch Maschinen angetrieben. Da Maschinen sich nur rentieren, wenn mehr produziert wird, wächst die Wirtschaft – und muss wachsen. Der CO2-Ausstoß nimmt zu).
Sobald die Wirtschaftsleistung im Kapitalismus nicht mehr wächst oder gar schrumpft (nicht in einer Region oder in einem Land, sondern insgesamt), ist höchste Gefahr im Verzug. Es setzt sofort eine Abwärtsspirale ein. Massenarbeitslosigkeit und Chaos bis hin zur rechten Diktatur drohen.
Für eine nachhaltige Lebensweise müssen wir aus dem Wachstumszwang des Kapitalismus aussteigen. Es gibt Modelle der Kreislaufwirtschaft, die ohne Wachstum funktionieren. Aber die entscheidende Frage ist: Wie kommen wir dahin? Wie kommen wir aus dem alles dominierenden, mit vielen Vorteilen verbundenen System des Kapitalismus zu einer völlig anderen Wirtschaftsform? Nicht in einer Nische, in ein paar Unternehmen, sondern insgesamt?
Am Beispiel zunehmender Wasserknappheit erläutert Ulrike Herrmann das einzige (ihr bekannte) Modell, wie die ausreichende Versorgung der Bevölkerung bei nachhaltigen (und damit notwendigerweise knappen) Ressourcen sichergestellt werden kann. Wenn das Wasser – wie teilweise heute schon – aufgrund der Klimakrise nicht mehr für alle reicht, werden die verschiedenen Verbrauchergruppen – Landwirtschaft, Industrie, Privathaushalte – vom Staat verlangen, eine Lösung zu finden. Damit kommt es zu einer staatlichen Regelung.
Das alles heißt insgesamt: Da die Bewältigung der Klimakrise und der Kapitalismus aus ökologischen Gründen nicht mehr miteinander kompatibel sind, wird die Logik der Geschichte uns vom Kapitalismus zwingend wegführen. Bis zu dieser Lösung brauchen wir einfach nur abzuwarten, sie kommt sicher.
Ein Gegenargument wird hier in der Regel vorgebracht (wohl v.a. aus Mangel an Fantasie): „Wir wollen keinen Sozialismus!“. Deshalb sei klargestellt: Auf den Kapitalismus wird mit Sicherheit kein Sozialismus (wie er bisher existierte) folgen. Wir wissen nicht, was folgen wird oder wie das, was kommt, später genannt werden wird. Unser Unwissen über das Wirtschaftssystem der Zukunft ändert jedoch nichts am Befund, dass der Kapitalismus sich überholt hat. Die Alternative wäre höchstens: Der Kapitalismus überlebt, nur die Menschheit nicht. Das will dann wohl doch keiner.
Unser aufs ständige quantitative Wachsen angewiesene System wird also in jedem Fall zu etwas anderem transformiert. Das Problem ist aber: Wenn wir untätig abwarten, dass uns die Ökokrisen zur Vernunft zwingen, werden wir genau dort landen, wo Klimaforscher:innen uns auf dem jetzigen Pfad sehen: In einer Welt, die in Chaos und Leid versinkt. Wir müssen daher aus freien Stücken umsteuern (Vortrag Herrmann).
Wir müssen uns gesundschrumpfen. Die Ökonomie könnte hierfür wirtschaftliche Modelle erstellen. Anliegen der HSS muss es sein, den radikalen, aber plausiblen Gedanken von der Schrumpfwirtschaft zu prüfen, gegebenenfalls Modelle dafür einzufordern und uns rechtzeitig genug auf diesen Weg zu bringen.
Ich-Entwicklung: Die Weiterentwicklung der Menschheit
Da wir alle auf diesem Planeten festsitzen und es fürs Klima gleich ist, in welchem Land CO2 emittiert wird, können wir unsere Probleme letztlich nur gemeinsam lösen. Mit anderen Worten: Die Menschheit muss sich vom Gegeneinander zum Miteinander weiterentwickeln. Dies ist zwingend. Doch offenbar braucht es eine gewisse Fähigkeit, über den eigenen Tellerrand hinaus zu blicken.
Dies hat weniger mit Intelligenz oder Bildung zu tun, sondern mit dem Vermögen, sich selbst und die Welt in einer gewissen Komplexität aufzufassen. Es geht darum, der Welt Bedeutung zu verleihen. Die äußeren Tatsachen werden mit der eigenen Weiterentwicklung zunehmend in ihrer Komplexität begriffen und auf sich selbst bezogen. Selbst- und Weltbild gehören immer zusammen.
Die Forschung zur Ich-Entwicklung nach Jane Loevinger (1973, 1976, Binder 2016) beschreibt, wie genau sich diese Fähigkeit bei einzelnen erwachsenen Menschen entwickelt. Vom alles dominierenden Ego ausgehend, werden zunächst die Rollen und Normen der Gemeinschaft und mit Ihr das Vertrauen in andere entdeckt. Über eine rationale, technikorientierte Stufe geht es weiter zur Orientierung an den eigenen Werten und längerfristigen Zielen. Danach folgt ein immer komplexeres Fühlen, Denken, Beziehung gestalten, mit immer weiterem Zeithorizont.
Könnte diese Forschung, die sich auf Einzelpersonen bezieht, zum gesamten Problem der HSS beitragen? Könnten wir von dieser in qualitativen Sprüngen verlaufenden Entwicklung als Menschheit profitieren? Befunde der Ich-Entwicklung zeigen in dieser Richtung. So zieht das Beispiel, das Menschen auf späteren Stufen geben, andere nach. Ferner gibt es eine Schnittstelle zur Gesellschaft: Es könnte eine kritische Größe geben, ab der das in einer Gesellschaft maßgebende Paradigma sich wie ein Kippelement verhält. Das würde uns eine – dringend benötigte – Beschleunigung unserer Entwicklung schenken.
Forschungen, die unter dem Titel „Spiral Dynamics“ stattfinden, die Integrale Theorie Ken Wilbers u.a. stellen diese Überlegungen an. Meinem Eindruck nach scheint die empirische Basis hier weniger gesichert. Interessant, weil zielführend und inspirierend ist die Lektüre allemal. Leuthold (2020) bringt Psychologie, östliche Philosophie, Wilber, Loevinger und die moderne Gehirnforschung brillant zusammen (v.a. Seite 17-25).
Die Klimakrise könnte bedeuten, dass wir uns in einem ähnlichen Sinne wie einzelne Individuen weiterentwickeln müssen, um sie zu lösen. Das wäre einerseits dramatisch, denn Entwicklung in diesem Bereich führt über innere Widerstände und dauert seine Zeit (individuell: 5-7 Jahre pro Stufe, falls die Entwicklung überhaupt vorankommt).
Andererseits wäre das Verlockende an dieser Idee, dass wir sehr viel davon profitieren würden. Es würde nicht nur diese Krise bewältigt, wir würden als Spezies unser Potenzial entfalten, uns stärken und neue Möglichkeiten eröffnen.
Ähnlich wie die Logik bei Ulrike Herrmanns Überlegungen zur Wirtschaft, wäre diese Entwicklung zwingend – wir bräuchten nur abzuwarten. Die Realität verlangt uns diese Entwicklung ab. Allerdings gälte auch hier: Wenn wir auf ausreichenden Druck von außen warten, geraten wir vollends in die Katastrophe. Im Unterschied zur Wirtschaftsentwicklung gilt immerhin, dass uns die Erkenntnisse über die individuelle Entwicklung einen guten Anhaltspunkt für die Marschroute gäben.
Die menschliche Weiterentwicklung zu fördern, wäre ein entscheidender Hebel zur Bewältigung der Ökokrisen. Ferner wäre es wichtig, darauf zu achten, auf welchem Level die diskutierten Ideen der HSS spielen. Ich halte beispielsweise den parteiübergreifenden Konsens, einen 1,5-Grad-Plan in allen Parteien und Bürger:innen-Räte für dringend erforderliche Lösungen. Innerhalb des Parteiensystems, in der Logik einer Partei, die sich gegen andere profiliert, im Wahlkampf, können wir unser Menschheitsproblem nicht lösen. (Kurze, anschauliche Einführung in die Ich-Entwicklung)
Fazit: Das Überkochen verhindern
Die Wachstumskritik von Ulrike Herrmann und Niko Paech zielt auf die Analyse der Brennstoff-Förderung und des Brennstoffhandels. Ansätze wie die Ich-Entwicklung zielen auf unser Verhalten und darauf, dass wir befähigt werden, unsere Situation als Menschheit zu verstehen und zu handeln.
Konkrete Ansätze wie die Wald-Bau-Pumpe, Smart Grid (intelligentes Energiemanagement) oder Techniken wie der Energy Vault (neuartige Lösung zur Speicherung von Energie) stehen bereit. Sicherlich gibt es wichtige Erkenntnisse aus der Forschung sozialer Bewegungen, der Agnotologie (Forschungsrichtung, welche die kulturelle Erschaffung und Aufrechterhaltung von Unwissen untersucht) und von anderen Disziplinen.
In jedem Fall geht es jetzt ums Ganze. Ums Forschen und zugleich ums Handeln. Dies ist die Perspektive der Homo sapiens science. Ob daraus eine Wissenschaft wird, entscheiden andere. Dies ist ein Denkanstoß.
Zum Vergleich Psychologie / HSS siehe den Post: Streitschrift: Die Psychologie in der Klimakrise
Ferner den Post zur Psychologiekritik an zwei Beispielen: 10 naive Fragen: Warum die akademische Psychologie nicht weiterhilft
Binder, T. (2016). Ich-Entwicklung für effektives Beraten. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht.
Leuthold, A. (2020). Ego Development und Konzeptualisierung von auf Inklusion bezogenen Handlungsmöglichkeiten bei Studierenden erziehungswissenschaftlicher Studiengänge an der Universität Erfurt. Online unter: https://www.db-thueringen.de/receive/dbt_mods_00042950.
Loevinger, J. (1973). Recent research on ego development. Bethesda. Md.: National Institue of Mental Health (DHEW).
Loevinger, J. (1976). Ego-development. Conceptions and theories. San Francisco, CA: Jossey-Bass.
Schmidt-Salomon, M. (2019). Erkenntnis aus Engagement: Grundlegungen zu einer Theorie der Neomoderne. Aschaffenburg: Alibri Wissenschaft, korrigierte 2. Auflage
Herzlichen Dank an Markus Fellner und an meine Tochter für die hervorragende kritische Durchsicht einer früheren Version dieses Posts. Verbliebene Fehler sind meine.
2 Kommentare
Sehr geehrte HSS, einsehen gelungener und Ausgewogener Beitrag. Wir benötigen zum Kochen eigentlich schon lange kein Feuer mehr. Das gleiche gilt für das Heizen und sonstige Aktivitäten. Sie haben selbstverständlich Recht, wenn Sie dem Brennstoff Handel eine Zentrale Rolle
In der derzeitig Gleichung angedeihen lassen. Dieser ist sehr ermöglicht sehr viel Profit. Geld bedeutet im Kapitalismus Macht. Was nutzt aber Macht wenn es niemanden mehr gibt auf den ich Sie ausüben kann? Diese Frage stellt sich derzeitig niemand.
Mit freundlichen Grüßen
Thomas Nitschke
Ausgehend von persönlicher Motivation vs. Ausreden des Individuums im Rahmen der gegeben Handlungsspielräume & Schwierigkeiten, muss die Klima-Psychologie darüber hinaus viel mehr noch ganzheitlich die kollektive Dimension erkennen…
Nämlich die Notwendigkeit und Potenziale, kollektiv gesellschaftliche & politische Transformationen in Gang zu setzen, um Hemmnisse im System zu beseitigen und die Handlungsspielräume für jeden Einzelnen zu erweitern: So lassen sich neue Trends setzen, als »Best Practice« Standards etablieren und schließlich gesetzlich reglementieren, um zuletzt auch notorische Verweigerer, Klima-Leugner, Privatflieger & Porsche-Fahrer wie Christian Lindner oder Friedrich Merz in die Pflicht zu nehmen!