Das Wörtchen “Berufsorientierung” wird meist nur mit der ersten Entscheidung für einen Beruf verbunden. Doch besonders die dritte Welle der Berufsorientierung – ab etwa fünfzig – ist interessant. Passend zur gerade in Deutschland abgelaufenen Handball-WM ziehe ich hier die Analogie vom Hallenhandball zur Karriere.
Die erste Welle: Handball
Die gegnerische Mannschaft war gerade im Angriff, da verliert sie den Ball. Jetzt geht es blitzschnell in der anderen Richtung. Das ganze Spielfeld ist frei, das Tor liegt weit entfernt, aber kann im schnellen Lauf erreicht werden. Mit wenigen Pässen lässt sich die Distanz überbrücken. Im Idealfall sieht sich der Angreifer von Gegenspielern unbedrängt nur noch dem Torwart gegenüber und kann einwerfen.
Die erste Welle der Berufsorientierung
Nach dem Schulabschluss stellt sich die Frage, welchen Beruf man erlernen soll. Ausbildung, duale Form, Studium? Der Schulabschluss bestimmt die Optionen. Auch wenn das Abitur nicht erreicht wurde, gibt es unzählige Möglichkeiten. Jetzt muss man “nur” noch wissen, was am besten passt auf die eigenen Voraussetzungen und Wünsche. Dann kann es los gehen und nach wenigen Jahren ist das Ziel erreicht.
Die zweite Welle: Handball
Der direkte Gegenstoß hat nicht wie gewünscht funktioniert. Inzwischen sind einige Gegenspieler zurück gelaufen. Aber die gegnerische Abwehr ist noch nicht vollzählig und steht noch nicht perfekt, das gilt es auszunutzen. Zumal auch schon Mitspieler vorne sind. So einfach wie beim schnellen Gegenstoß ist das Tor nun nicht mehr zu erzielen. Aber immer noch gibt es größere Lücken, die es zu nutzen gilt.
Die zweite Welle der Berufsorientierung
Der Abschluss wurde erreicht. Nun geht es darum, sich im Beruf zu etablieren, vielleicht auch zu spezialisieren. Beispielsweise aufs Marketing oder den Einkauf. Wo kann man seinen Platz finden und eine Position erobern? Passt ein Weg als Führungskraft, als Experte, Projektmanager, Leader? Vielleicht sogar – eher ungewöhnlich und häufig riskant – kommt jetzt schon eine Selbständigkeit ins Spiel?
In jedem Fall ist dies auch die Zeit, in der es um das Erzielen eines sicheren, ausreichend hohen Gehalts geht. Denn auf der privaten Seite werden für viele die Etablierung der Partnerschaft, das Gründen der Familie und sichern des entsprechenden Einkommens die Themen sein. Vielleicht wird eine Eigentumswohnung erworben, die abgezahlt werden muss. Die Kinder werden größer, gehen zum Sport oder in den Musikunterricht. All diese Anforderungen bedeuten Stress und daher gilt es auch, eine Balance zu finden und sich nicht psychisch oder gesundheitlich zu ruinieren.
Die dritte Welle: Handball
Die gegenerische Mannschaft hat es geschafft: Sie ist vollzählig in die Abwehr zurück gekehrt und steht am Kreis. Dennoch gibt es die Chance, jetzt schnell zu handeln. Statt eine Zeit lang hin- und her zu passen und sich einen geeigneten Moment für die sogenannte “Auslösehandlung” – einen Spielzug mit Torabschluss-Versuch – auszusuchen, startet dieser Angriff sofort. Das Angriffsspiel ist nicht mehr so einfach und direkt wie beim schnellen Gegenstoß. Die Lücken sind kleiner als in der zweiten Welle. Es geht raffinierter zur Sache, mehrere Angreifer und Gegenspieler werden einbezogen – aber es kann glücken.
Die dritte Welle der Berufsorientierung.
Wenn Sie sich beruflich gefestigt haben, das Einkommen der Familie ist gesichert und die Kinder gehen schon langsam aus dem Haus, treten andere Fragen des Lebens und Berufs in den Vordergrund. Deutlicher als zuvor sind gerade diese zwei miteinander verwoben: Leben und Beruf. Schließlich arbeitet man jetzt nicht mehr nur, um zu leben. Im Idealfall ist es sogar so, dass man gar nicht mehr arbeiten muss, um Geld zu verdienen.
Selbst wenn dieser Gipfel persönlichen Wohlstands fehlt: Viele haben doch etwas Vermögen aufgebaut. Dazu kommt: Wenn die Kinder selbst Geld verdienen, entstehen neue finanzielle Freiheiten für die Eltern. Auch etwas anderes verändert sich oft: Körper und Psyche sind nicht mehr so extrem belastbar. Das alles bringt andere Gedanken ins Feld: “Wozu arbeite ich?”, “Was will ich noch erreichen?”, “Wie kann ich mein Potential wirklich ausschöpfen?”. Die eigenen Talente und Ressourcen werden nochmals gesichtet und ausgerichtet. Und die Sinn-Frage rückt in den Blickpunkt.
Dorothea Assig und Dorothee Echter beschreiben in ihrem Buch “Ambition” (siehe auch das Interview hier auf diesem Blog), wie sich beim Sprung in die höchste Führungsebene die Verhältnisse ändern. Wie die Persönlichkeit plötzlich eine ganz andere Rolle spielt. Und sich der Wunsch zu gestalten manifestiert.
Besonders wenn die erste und zweite Welle der Berufsorientierung und des Lebens gut gelaufen sind, geht es unter Umständen noch tiefer. Die Frage nach dem eigenen Potential und dem Sinn im Beruf verbindet sich mit der Suche nach dem Sinns des Lebens überhaupt.
Auch wenn ich die Argumentation an dieser Stelle nicht auffächern kann, sei darauf hingewiesen: Wichtige empirische Aussagen dazu trifft das Modell der Ich-Entwicklung. Es beschreibt, wohin Menschen sich entwickeln. Wohin sich unsere Gesellschaft mit diesem Modell im Hintergrund entwickeln könnte, beschreibt hier ein aktueller Spiegel-Artikel – meines Wissens erstmals im deutschen Sprachraum. Zahlreiche Artikel auf diesem Blog gehen in eine ähnliche Richtung. (Hier geht es zum Angebot fürs Scoring der eigenen Ich-Stufe)
Skeptisches Zwischenspiel
Sollen hier überholte Normen hervorgekramt werden, wie man sein Leben zu gestalten hat? Nein, aber dass es für viele Menschen ungefähr so verläuft, daran kann kein Zweifel bestehen. Die meisten bekommen ihren Nachwuchs nicht mit zwanzig oder fünfzig, sondern mit dreisig. Dabei gibt es selbstverständlich Abweichungen vom Durchschnitt. Beispielsweise ist es nicht so einfach, gleich einen Treffer bei der ersten Berufswahl zu landen. Und das Sichern eines festen und ausreichend hohen Einkommens kann im ungünstigsten Fall ein Vorhaben für zwei Jahrzehnte werden. Einem Praktikum folgt das nächste, einem befristeten Vertrag die Zeitarbeit etc. Dennoch wird der Wunsch nach eigenen Kindern sich in einem gewissen Alter aufdrängen – fester Job hin oder her.
Drei Beispiele
Zunächst ein Informatiker (erste Welle), der in der zweiten Welle eine Unzahl von psychologischen und organisationsbezogenen Weiterbildungen absolviert hat und Organisationsberater wurde. Heiko Veit, den ich hier kürzlich interviewt habe. Er ist weiter auf der Suche, stets in Entwicklung. Und es wird spannend sein zu sehen, was bei ihm in der dritten Welle passiert und wo sie ihn hin trägt.
An seinem Beispiel beleuchtet: Wenn er “im zweiten Bildungsweg” zur menschlichen Entwicklung fand, hätte er das nicht gleich machen können? War die Informatik nicht ein unnötiger Umweg? Ich denke nicht. Denn nur als Informatiker mit diesen Weiterbildungen eröffnete er sich die Option, als Berater genügend Geld zu verdienen. Nur auf Basis seiner Informatik-Ausbildung konnte er IT-Unternehmen ausreichend gut verstehen und weiter entwickeln. Kein Mensch, der die erste Welle mit dem Studium “Soziale Arbeit” startet, wird (so einfach) dahin kommen.
Ein anderes Beispiel: Bernd Kolb, den ich ebenfalls hier interviewt habe, startete die erste Welle mit einem eigenen IT-Unternehmen. Er machte es erfolgreich und wechselte dann (zweite Welle) als Vorstand für Innovation zur Telekom. Dann begann er die dritte Welle. Er kündigte den Job, bereiste die Welt, wurde Fotograf und gründete den “Club of Marrakesh”, der sich bemüht, zur Bewahrung der Erde vor Kriegen und der Klimakrise beizutragen.
Und zuletzt: Karlheinz Böhm. Er wollte zunächst Pianist werden. Da die Aufnahmeprüfung misslang, studierte er Geisteswissenschaften, dann Schauspiel. Er wurde ein sehr erfolgreicher Schauspieler. Die dritte Welle begann bei ihm ungefähr mit Anfang fünfzig, als er die Hilfsorganisation “Menschen für Menschen” gründete. Sie hatte zum Ziel, die damals große Not in Äthiopien zu lindern. Seiner Hilfsorganisation widmete er sich fortan. Sein Engagement führte auch zu seiner dritten Ehe mit der aus Äthiopien stammenden Agrarexpertin Almaz Böhm (wahrscheinlich nur ein Zufall – ich glaube nicht, dass die erste Frau die erste und die zweite Frau die zweite Welle repräsentieren …)
Varianten der dritten Welle
Nicht jeder Mensch erfindet sich gegen Ende seines Berufslebens gänzlich neu oder bringt alles, was in ihm oder ihr zuvor angelegt war, zur Entfaltung. Immer mehr Berufstätige aber nutzen die dritte Phase ihrer Laufbahn dazu, das berufliche Engagement zunehmend besser mit dem Leben zu verschränken. Etwa indem die berufliche Seite so optimiert wird, dass sie entweder mehr Erfüllung bietet oder fürs Privatleben mehr Raum lässt.
Karriereberatung für die dritte Welle der Berufsorientierung
Für die Karriereberatung stellt sich in der dritten Welle eine neue Herausforderung. Während in der ersten Welle viel über das Erkunden von Stärken und Schwächen und Berufskunde verlangt wird, erfordert die zweite Welle Wissen zu Karrierewegen.
Die dritte Welle dagegen rückt unerbittlich einen Zugang zum Sinn in den Vordergrund. Wer hier selbst keine Antwort hat, steht mit leeren Händen da. Auch wenn letztlich die Kunden ihre eigenen Lösungen finden müssen, verlangt die Situation von der Beraterin oder dem Berater einen hohen Grad an Selbstgewissheit und Souveränität in dieser Frage. Insofern bleibt die Beratung nicht außen vor, sondern muss sich – zumindest indirekt – mit der Frage der eigenen Existenz und deren Sinnhaftigkeit beschäftigt haben. So kann sie auch in dieser anspruchsvollen Situation weiter helfen.