“Agil ist ein häufig missverstandenes Modewort”- Heiko Veit im Interview

Heiko Veit verfügt über langjährige Erfahrung als Organisationsentwickler und einen exorbitanten Umfang an abgeschlossenen Weiterbildungen. Seine umfangreichen Kenntnisse haben ihn ausgerechnet zu der Überzeugung geführt, dass eine Organisation gar nicht von außen entwickelt werden kann. Statt seinen Job an den Nagel zu hängen, hat er das „Praxishandbuch Organisationsentwicklung“ geschrieben. Im Interview erklärt er, womit externe Organisationsentwickler ihr Geld verdienen.

Als Einstieg eine ganz einfache Frage. Kannst du bitte in kurzen, schlichten Worten beschreiben, worum es dir in deinem Buch geht?

Damit möchte ich einen Beitrag zu einem gemeinsamen Erkundungsprozess leisten. Mein Ausgangspunkt ist eine Idee des amerikanischen Philosophen Ken Wilber. Er stieß als junger Wissenschaftler auf folgende Frage: „Wenn jeder (teilweise) Recht hat, wie würden dann alle Konzepte zueinander in Beziehung stehen?“. Als Antwort hat er eine Meta-Landkarte entwickelt, die sich um Integration und Sortierung bemüht. Sie ermöglicht eine wirklich „ganzheitliche“ Betrachtung. In meinem Buch beschreibe ich diese Landkarte. Außerdem enthält es einige wichtige Werkzeuge für die Praxis.

Dabei heraus gekommen ist ein Text, der trotz vieler schöner Abbildungen schwierig ist …

Organisationsentwicklung braucht Komplexität. Denn hier müssen wir sowohl den Menschen als auch die Gruppe, die Strukturen und die Kulturen, die Haltung und das Verhalten zusammenbringen. Konkret geht es um den wirtschaftlichen Markt. Aber auf einer übergeordneten Ebene sehe ich auch eine bessere Gesellschaft als Ziel an. Auch wenn die Frage, was unter „besser“ zu verstehen ist, wohl ein eigenes Interview erfordern würde.

Du schreibst in deinem Buch: „So trifft man gerade in frühen konventionellen Organisationen häufig auf die Idee, man hätte irgendeine Chance von Kontrolle und wäre auch in der Lage, durch ausreichend Analyse des Problems und exakter Planung die Zukunft zu gestalten.“ Für mich hört sich dein Befund so an, als würde er für die allermeisten Organisationen gelten. Aber du kritisierst ihn als Merkmal einer sehr frühen Entwicklungsstufe, die ja nicht so häufig vorkommt. Verstehe ich da etwas falsch?

Nehmen wir mal den Budgetplanungsprozess, wie er in den meisten Organisationen normal ist. Budgets werden im Lauf des Jahres eingesammelt, dann werden sie gekürzt und im Dezember steht der Plan.

Was ist daran verkehrt?

Grundsätzlich ist das in Ordnung, um einen Überblick zu bekommen. Problematisch wird es aber, wenn es zu sogenannten Budgetabweichungen kommt. Dann wird die Realität in den Plan eingepasst. Das führt erkennbar zu unsinnigen Prozessen.

Die frühe Stufe würde ich an der Starrheit festmachen, mit der vorgegangen wird. Details werden dann überbewertet. Die Inflexibilität ist extrem. Ein anderes Beispiel wäre das Controlling. Das ist ja dafür gut, einen Radar zu bieten. Ein System, das zeigt, wo man steht. Aber wenn Controlling zu starr genommen wird, haben wir ein Problem.

Wie könnte solch ein in die Irre laufendes Controlling konkret aussehen?

Dazu muss ich stark vereinfachen und beispielsweise einige systemische Abhängigkeiten, wie den Einfluss eines Shareholdervalues ausblenden …

Ich bitte darum…

Nehmen wir an, ein Unternehmen geht bei der Planung fürs nächste Jahr davon aus, dass sich die Absatzmenge wie in der Vergangenheit auch positiv weiterentwickelt. Also sollte die Gewinnsteigerung dementsprechend ausfallen. Diese Annahme kann sehr gut begründet sein. Aber letztlich bleibt es eine Fantasie.

Oder, wie ich es schon einmal in einem Blogpost hier geschrieben habe: Wir können nicht Hellsehen, aber verhalten uns oft so, als könnten wir es.

Genau! Was passiert nun, wenn die Kunden weniger kaufen? Das Controlling als Navigationssystem stellt fest: Die Gewinnerwartung ist bedroht! Soweit ist alles gut. Nun aber passiert oft etwas, das ganz und gar nicht gut ist. Das Navigationssystem Controlling wechselt sozusagen auf den Fahrersitz und empfiehlt, Projekte zu kürzen, um die Gewinnerwartung zu retten. Selbst wenn das klappt: Häufig werden solche Projekte getroffen, die erst in zwei Jahren ihren Nutzen eingebracht hätten. Hier sehen wir das Problem der frühen Stufe: Es wird ausschließlich der Gewinn betrachtet. Ein unterkomplexes Vorgehen.

Ein Spruch, der häufig zu hören ist, wenn es um Organisationsentwicklung geht, lautet: „Das Bessere ist der Feind des Guten“. Du kritisierst diese Aussage. Was stört dich daran?

Das Problem ist die Metapher vom Feind. Da wird so etwas wie ein unnötiger Krieg aufgemacht. Es entstehen Bilder von Menschen in Schützengraben, die etwas zu verlieren haben. Dabei geht es doch nur darum, nach neuen Erkenntnissen zu suchen. Das bringt allen etwas.

Wie könnte es besser formuliert werden?

Gut finde ich die Vorstellung, dass das Neue auf den Schultern des Alten steht. Damit würdigt man auch die Leistungen der Vergangenheit auf angemessene Weise.

Du schreibst: „Wo auch immer die Aufmerksamkeit aktuell in einem Unternehmen sitzt, wird auch die größte Investition getätigt.“ Das fand ich spannend. Kannst du ein Beispiel nennen?

Wenn das größte Problem auf der Vertriebsseite liegt, ist es einfach, dort neue Projekte zu starten. Damit verbunden wird Geld von der Produktion abgezogen. Wenn man auf der Welle der Aufmerksamkeit Projekte startet, geht das leicht. Aber Bereiche, die quasi unter der Motorhaube liegen, garantieren die Stabilität des Unternehmens. Werden sie vernachlässigt, wankt das Ganze. Ein Beispiel aus dem IT-Bereich: Neue Software wird immer relativ schnell entwickelt. Aber alte Systeme werden unzureichend gepflegt, geprüft und aufgeräumt.

Berater kommen häufig von außerhalb. Auch du arbeitest als externer Berater und dein Buch wendet sich zum wesentlichen Teil an andere externe Berater. Da klingt folgender Satz recht sonderbar: „Letztendlich kann ich eine Organisation nicht von außen entwickeln, denn das ist etwas, was von innen heraus geschehen muss.“ Was machst du dann? Anders gefragt: Wofür bekommst du dein Geld?

Schöne Frage … aber im Ernst: Externe Berater haben aus meiner Sicht zwei Aufgaben. Erstens: Sich überflüssig machen. Das bedeutet, dass sie Wissen, Fähigkeiten und Tools an Menschen in der Organisation vermitteln, mit denen diese Menschen ihre Organisation verändern können. Das gilt für alle Organisationen auf jeder Reifestufe. Zweitens: Berater können den Blick von außen anbieten, indem sie andere kulturelle und individuelle Färbungen einbringen. Sie können Muster erkennen, die die Organisation auszeichnet und auf blinde Flecken hinweisen. Daraus ergibt sich eine Warnung an manche Berater-Kunden-Verhältnisse, wenn die Zusammenarbeit viele Tage pro Jahr umfasst und das mehrere Jahre lang. Zu fragen ist dann: Wann werde ich betriebsblind? D.h. neben neuen Anregungen, die ein Berater für sich organisieren kann, wird hier auch mal eine Auszeit von 2-5 Jahren angebracht sein.

Kann dort nicht auch Intervision oder Supervision helfen?

Supervision oder Intervision – ohnehin unerlässlich – können hier auch helfen, um den Abnutzungsprozess hinaus zu zögern. Eine andere Variante wäre es, andere Beraterkollegen einzubinden. Oder die Organisations-Entwickler-Werkstatt, wie ich sie selbst im nächsten Jahr für Beraterkollegen anbiete. Dort kommen die Teilnehmer mit ihren eigenen Kundenprojekten, um sie zu reflektieren. Aber selbst, wenn man das alles macht und der Berater auf einer späten Entwicklungsstufe unterwegs ist – was hier günstig wirkt: Ganz aufhalten lassen sich Abnutzung und Betriebsblindheit nicht.

Momentan ist das Modewort „agil“. Du schreibst in deinem Buch nicht explizit darüber. Aber soweit ich weiß, arbeitest du seit vielen Jahren agil. Gibt es etwas, das dich an dem aktuellen Hype stört? Wird „agil“ missverstanden?

Jede Entwicklungsstufe interpretiert alles, was sie hört und liest auf ihrer Stufe. Agil meint, auf der Basis von Regeln, Rollen und Prozessen, ohne diese zu übertreiben, durch Kooperation, tiefen Dialog, Einbindung und Integration verschiedenster Perspektiven in dieser Welt etwas zu erreichen. Selbst auf der Ich-Entwicklungsstufe E6, die einem vollentwickelten Erwachsenen-Ich entspricht, ist man noch häufig der Meinung, die eigene Sichtweise sei richtig. D.h. eigentlich müsste man auf E7 oder E8 sein, um den Grundgedanken der Agilität umzusetzen. Doch nur wenige Menschen sind auf diesen späten Stufen unterwegs. Die Folge ist, dass scheinbar agile Prozesse eingeführt und dann streng interpretiert werden. Das Fließende und Flexible, ein Kern des agilen Grundgedankens, bleibt außen vor. Der Fortschritt liegt dann nur noch darin, sich streng an Prozesse zu halten. Agil kann man das eigentlich nicht nennen. Das eigentliche Potential der Agilität wird damit nicht ausgeschöpft. Aber effiziente Prozesse helfen ja auch weiter. Daher ärgere ich mich nicht mehr über diesen relativen Missbrauch des Agilitäts-Begriffs.

Interessant ist übrigens: Ich werde häufig angefragt mit dem Anliegen: „wir wollen agil werden!“ Ich frage dann zurück: Warum? Welches sind Ihre Hauptprobleme, die Sie mit dem Konzept agil lösen wollen? Und wieso glauben Sie, dass Agilität die Lösung dafür ist? Häufig kommen Unternehmen wegen des Hypes um die Agilität zu solchen Anfragen, doch genau genommen geht es nicht wirklich um Agilität. Aber dadurch kommt man in interessante Prozesse und Diskussionen.

Herzlichen Dank für das Interview!

Heiko Veit begann sein Arbeitsleben in der IT und stellte in Projekten schnell fest, dass die Technik zwar wichtig ist, aber beherrschbar. Die wirkliche Herausforderung liegt in der Zusammenarbeit von Menschen. Das führte zu weit über 6.000 Stunden Aus- und Weiterbildung in den Themenfeldern Persönlichkeits- und Organisationsentwicklung. Dazu gehörten Weiterbildungen in Transaktionsanalyse, Gestalt, Systemik, Hypnosystemik, Ich-Entwicklung und weitere. Von Heiko Veit erschien 2018 das „Praxishandbuch Integrale Organisationsentwicklung. Grundlagen für zukunftsfähige Organisationen“ im Wiley-VCH Verlag.

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