Verschwörungserzählungen funktionieren so: Da ist eine angebliche geheime Wahrheit. Mächtige Kräfte versuchen alles, damit sie nicht ans Licht kommt. Dahinter steckt ein großer Plan. Die Realität sieht anders aus. Es gibt absolut skandalöse Wahrheiten, manche bedrohen die ganze Menschheit. Aber sie werden nicht unterdrückt, sondern interessieren nur zu wenig. Von einem, der auszog, um die Wahrheit zu verkünden – aber damit nirgends landen konnte.
Die Wahrheit unter Freunden
Sie haben bergeweise Bücher studiert, Filme gesehen, diskutiert. Sie haben ein gutes Herz und versucht, die Probleme der Welt zu lösen. Und tatsächlich, es ist Ihnen gelungen. Sie haben herausgefunden, wie alles zusammenhängt. Sie besprechen Ihr neues Wissen mit Ihren Freunden. Sie erzählen ihnen davon, wieso Menschen hungern. Warum Fabriken die Umwelt zerstören. Wieso bald große Teile der Erde unbewohnbar werden. Und weshalb weder die Regierungen, noch irgendjemand etwas macht – oder durchschlagenden Erfolg mit redlichen Versuchen der Rettung hat. Und das beste: Sie haben herausgefunden, wie man diesen Irrsinn beenden könnte.
Die Reaktion Ihrer Freunde fällt gemischt aus. Die einen hören erst gar nicht richtig zu. Die anderen können sich nicht vorstellen, dass ausgerechnet Sie so etwas herausgefunden haben. Wer sind Sie schon? Andere Freunde stimmen Ihnen zu und raten Ihnen daher, sich an die Öffentlichkeit zu wenden. Das muss alle Welt erfahren! Sie sollten ein Buch schreiben. Oder ins Fernsehen. Daran haben Sie auch schon gedacht.
Die Wahrheit als Buch
Sie schreiben ein Buch und bieten es Verlagen an. Von vielen bekommen Sie keine Rückmeldung. Von einigen bekommen Sie Monate später eine Absage – ohne Begründung. Während die Welt weiter macht wie bisher, während weitere Arten aussterben und weiter Plastik in Fischmägen landet, beobachten Sie die Bestseller-Liste.
Da ist ein Titel einer Moderatorin des Privatfernsehens ganz vorne. Auf dem Buch-Cover ein Bild von ihr: Lange blonde Haare, großzügige Oberweite, sinnliche Lippen. Ob sie wohl schon ein paar Operationen hinter sich hat und was das gekostet haben mag? So oder so: Sie sieht schick aus. Sie betrachten sich selbst im Spiegel und stellen einen Unterschied fest. Was die junge Frau zu sagen hat, ist nichts. Aber sie hat ein paar Millionen Zuschauer in ihrer Show. Ist Fernsehen der Weg zum eigenen Buch?
Die Wahrheit im Fernsehen
Sie zappen sich durch die Kanäle. Sie begegnen einem riesigen Berg an Sendungen wie diejenige, die diese Blondine moderiert. Offenbar gibt es viele Leute, die so etwas sehen wollen. Überfettete Jugendliche, die von ihrem missglückten Privatleben erzählen. Hübsche Menschen, die halbnackt irgendwas machen und sagen, kichern und knutschen.
Andere Ausstrahlungen werden der Lage der Menschheit eher gerecht. Auf einige Talkrunden trifft dies zu. Die Gäste sind bekannt – oder Sie lernen sie mit der Zeit kennen. Es sind immer die gleichen. Sie entdecken verwundert, dass sogar Moderatoren anderer Talk-Shows als Gäste auftreten. Die Themen und Informationen wiederholen sich auch. Manchmal denken Sie beim Zusehen: Das würde ich jetzt sagen. Dies müssten alle wissen. Aber Sie kommen mit Ihrer Wahrheit ja nicht ins Fernsehen. Weil Sie eben kein bekannter Irgendwas sind. Zudem erkennen Sie immer wieder den Unterschied zwischen sich und den Talkshow-Gästen im Spiegel. Aber es muss doch auch andere Sendungen geben?
Mehr oder weniger versteckt, in Sparten- und Kulturkanälen und später am Abend finden Sie doch noch ein paar Politmagazine und Talkrunden. Was dort erscheint, ist nicht geheim – es schauen offenbar nur weniger Zuschauer hin. Aber das wäre ein Anfang für Sie, um die Wahrheit zu präsentieren. Wiederum geht es Ihnen so, dass Sie deutlich merken: Die von Ihnen entdeckte Wahrheit könnte hier wirklich weiterhelfen. Sie wäre etwas anderes.
Die Wahrheit an der Universität
Sie fragen eine befreundete Journalistin, wie Sie ins Fernsehen kommen. Sie hört Ihnen zu. Sie erzählen von diesen kleineren Talkshows und Interviews, die Ihnen aufgefallen sind. Sieh mal genauer hin, rät sie Ihnen. Das sind alles Professoren. Aber du hast nicht mal den passenden akademischen Titel. Welterklärung ist ohnehin nichts, was man studieren könnte. Aber vielleicht doch noch promovieren?
Eine befreundete Universitätsdozentin erzählt Ihnen, dass es an der Uni immer mehr darum geht, möglichst viele Studien in möglichst renommierten Journalen zu veröffentlichen. Eine längere Zeit über ein Thema nachzudenken, kann sich keiner mehr leisten. Und diejenigen, die das verstanden haben, dominieren die wissenschaftlichen Karrieren. Also wird es schwierig, an diesen Universitäten an Wahrheiten zu arbeiten. Verrückt – sollte es nicht genau anders herum sein? Gehörte das Erforschen der Wahrheit nicht genau dorthin, an die Universitäten? Egal, so ist es nunmal. Sich selbst und seine Forschungen zu verkaufen scheint wichtiger zu sein. Das gilt es zu akzeptieren.
Die Wahrheit in der Zeitung
Mit irgendwas auffallen, hatte Ihnen Ihre Freundin noch geraten. Sie sichten, was in der Zeitung steht. Da ist ein Junge, der 15 Döner hintereinander gegessen hat. Ein prominenter Schauspieler hat sich von seiner Frau getrennt. Eine Schlagersängerin bekam auf der Bühne einen Schwächeanfall. Und ein berühmter Musiker ist gestorben. Ein Fußballer hat ein Schnitzel gegessen, was ein Skandal und berichtenswert ist. Es war mit Blattgold überzogen. Und nun werden die Meinungen der anderen Kicker und Trainer eingeholt. Das füllt schon mal ziemlich viel Platz. Auch Zeitungen müssen sich verkaufen, keine Frage. Verleger wollen Gewinne machen.
Und dann sind da die täglichen grässlichen Meldungen. Missstände, für die Sie eine Lösung im Angebot hätten. Aber Sie haben nur Worte. Sie beherrschen keine großen Künste – oder sind für sonst irgendetwas bekannt. Fußballer wurden Profis, weil sie gut kicken können. Aber sie werden zur politischen Lage befragt. Auch Schauspieler. Und Schlagerstars breiten ihre Lebensphilosophie aus. Aber Sie sind nichts dergleichen. Sie haben die Wahrheit. Sie könnten der Welt helfen.
Aber die Wahrheit ist schlecht verkäuflich. Das bemerken Sie immer mehr und es ist Ihre Bestätigung für das, was Sie zu sagen haben. Denn natürlich enthält Ihre Wahrheit eine Analyse der Gesellschaft und des Wirtschaftssystems. Sie erklärt und prangert an, dass die medialen Kanäle platzen vor Trivialitäten. Dass mit Sex and Crime, mit Skandälchen und Blasen aus Politikermündern die Sendezeit gefüllt wird. Weil sich das verkauft.
Die Wahrheit in der Protestbewegung
Doch da gibt es noch Menschen, die anders gestrickt sind. Menschen, die die Lage der Welt ähnlich sehen, wie Sie. Engagierte und Aktivisten. Hier werden Sie doch wohl willkommen sein mit Ihrer Botschaft?
Sie kontaktieren die Campaigner der bekannten sozialen Bewegungen. Sie wissen, dass es nicht einfach wird. Aber Sie teilen die gleichen Werte. Diese Leute vertreten eine Gegenöffentlichkeit. Also tragen Sie Ihre Wahrheit genau dort hin, wo sie offensichtlich hingehört. Tatsächlich stoßen Sie nun auf einiges Interesse. Sie erfahren Zustimmung. Man will die Sache überdenken und sich wieder bei Ihnen melden. Das kennen Sie schon von Ihren Anfragen bei Verlagen und Medien.
Auch das passt zu Ihrer Analyse. In einem Wirtschaftssystem, in dem alles verkäuflich sein muss, gilt das auch für humanitäre Botschaften. Weltrettung und Trivialitäten teilen sich dasselbe, beschränkte Quantum an Aufmerksamkeit. Ein Wirtschaftssystem, das auf Wachstum ausgerichtet ist, darf keine Zufriedenheit spenden. Es muss Sie hungrig machen auf das immer bessere. Und dafür braucht es möglichst viel Sendezeit. Verkauf und Wachstum führen zur Beschleunigung. Auch Wahrheiten müssen schnell konsumierbar sein. Und alle Information muss priorisiert werden. In den Köpfen der Menschen wie in den Medien.
Die Wahrheit in der Verschwörungsszene
Sie bemerken, dass neuerdings viele Wahrheiten auf die Straße gebracht werden. Es wird auch in den Medien groß über sie berichtet. Da ist ein youtube-Film zur Coronakrise, der rasend oft geklickt wird. Und da sprechen Leute in Mikrophone, die auch keine Professoren-Titel vorweisen können.
Doch Sie bemerken ein paar Unterschiede. Diese Verschwörungserzähler behaupten, sie wüssten etwas Wichtiges – obwohl ihre Behauptungen offensichtlicher Nonsens sind. Während auf allen Kanälen Corona-Kranke gezeigt werden und die Friedhöfe überlaufen, erklären uns Verschwörungserzähler, das Coronavirus sei harmlos.
Offensichtlich ist die Lage der Welt skandalös. Millionen Kinder sterben, Milliarden Menschen fehlt der Zugang zu sauberem Trinkwasser und ausreichendem Einkommen. Unternehmen verkaufen sinnlose Produkte, die wenig haltbar sind und die keiner braucht. Um ihren Schrott trotzdem zu vermarkten, geben sie riesige Summen aus. Prominente funktionieren auch da gut, als Markenbotschafter. Lobbyisten, die dafür kämpfen, dass ihre Arbeitgeber Luft und Wasser weiter verschmutzen dürfen, sind gut bezahlt und angesehen. Politiker tun alles, um wiedergewählt zu werden, statt die Menschheit vor dem Abgrund zu bewahren. Das alles ist bekannt und steht in jeder Zeitung. Seit Jahrzehnten.
Es ist (hierzulande) nicht verboten, dies zu sagen. Und wenn Sie eine Wahrheit entdecken, wie dies alles zusammenhängt und wie es geändert werden könnte, dürfen Sie diese überall verkünden. Keine geheimen Mächte verhindern dies. Ihre Wahrheit wäre zunächst wenig sensationell. Denn Sie beziehen sich ja auf Fakten, die jedeR nachlesen kann. Jeder Mensch weiß im Prinzip um die Krisen. Nur: JedeR interessiert sich vor allem für sich selbst und ist auch nur ein Getriebener im System des Kapitalismus. Unser Wirtschaftssystem, das uns stets zum nächsten, besseren Produkt und zur nächsten Methode des Schönerwerdens und der Selbstoptimierung führt.
Und, nein, Merkel ist nicht an allem schuld. Aber sie ist nicht nicht schuld.
Mensch und System
Das System formt den Menschen und der Mensch das System. Das ist keine einfache, sondern eine komplexe Wahrheit. Aber sie ist auch nicht unmöglich zu verstehen. Dahinter stecken keine Verschwörer. Es bedarf keinerlei Pläne, um das Bekanntwerden dieser Wahrheit zu verhindern. Wir leben in skandalösen Verhältnissen. Unser Lebensstil führt zur Ausbeutung in anderen Ländern. Wenn die Armen zu uns fliehen wollen, lassen wir sie an den Grenzen verhungern oder im Mittelmeer ertrinken. Und zu allem Überfluss heizen wir die Atmosphäre so auf und vernichten so viele Arten, dass wir uns die eigene Lebensgrundlage entziehen.
Wir leben in skandalösen Verhältnissen. Das ist genug Wahrheit. Es braucht keine Verschwörungserzählungen. Wir machen alle mit. Diese Wahrheit trägt kein tiefausgeschnittenes Kleid. Sie wurde von keinem Weisen in jahrelangen Studien an einer angesehenen Universität entdeckt. Sie muss auch nicht mit Millionen Euro Marketingbudget in die Medien geblasen werden. Sie ist unser Alltag. Wir müssen uns nur trauen, hinzusehen.
Wenn Sie etwas daran ändern wollen, können Sie jetzt damit beginnen. Niemand wird sie daran hindern. Sie müssen nur damit zurechtkommen, dass Sie ständig gegen die Kräfte des – nicht geheimen – kapitalistischen Systems kämpfen müssen. Eines Systems, das auch in den Köpfen und Herzen der Menschen lebt. Ihre Gegner sind kurze Wahlperioden, Verhaltensroutinen und die Normalität. Es wird also wohl unerfreulich. Aber vielleicht sind Sie es sich einfach schuldig zu tun, was jetzt getan werden muss.
Und wenn Sie wissen wollen, warum sich nicht längst etwas geändert hat, gebe ich Ihnen einen Tipp: Versuchen Sie, unsere Gehirnstruktur zu verstehen. Wenn die Selbst- und Weltbilder der Menschen sich ändern, können auch die Menschen sich ändern und die Art, wie wir leben und uns vergesellschaften. Dafür gibt es Anregungen in der Kognitionsforschung, Metapherntheorie und Ich-Entwicklung. Aber das ist eine andere Geschichte.
Sicher ist: Es braucht keinen großen Plan und keine Weltverschwörung. Die Wahrheit liegt offensichtlich da. Jeder, der bereit ist, sich mit ein bisschen Komplexität anzufreunden, kann sie tagtäglich in der Zeitung lesen. Sie ist das Gegenteil der großen Weltverschwörung. Wir müssen sie nur in unseren Kopf und in unser Herz lassen. Wir müssen damit leben, dass sie tatsächlich da ist. Und dass wir die Welt nicht retten können. Aber damit anfangen, das können wir.
P.S. Danke an die Investigativjounalist*innen, die wirkliche Verschwörungen aufdecken – wie etwa den Dieselskandal
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