Wir atmen Luft, trinken Wasser, erleiden Überflutungen, Waldbrände oder Dürren und haben als Menschen inzwischen einen so großen Einfluss auf unsere Lebenswelt, dass politische Wahlen all dies erheblich beeinflussen werden. Doch statt über die Erhitzung der Erde zu streiten, sezieren wir die persönlichen Macken der Kanzlerkandidat:innen. Wie hängen Politik, Psychologie und Klima zusammen? Und wieso steht Olaf Scholz derzeit so gut da?
Olaf Scholz und das CO2
Finden Sie das Klimagas CO2 sympathisch, ehrlich, klug? Ganz offensichtlich ergeben diese Fragen keinerlei Sinn. Ein Gas hat keine menschlichen Eigenschaften! Um die Wirkung des ansteigenden CO2-Gehalts der Atmosphäre abzuschätzen, bemühen wir die Wissenschaft. Sie stellt klar: Flutkatastrophen wie die im Ahrtal, Dürren, Stürme, Hitzewellen werden künftig häufiger und heftiger. CO2 wirkt – aber vorstellbar und in psychischen Eigenschaften beschreibbar ist dieser Zusammenhang nicht.
Was halten Sie von Olaf Scholz? Mögen Sie ihn, finden Sie ihn sympathisch, ehrlich, klug? Ganz klar, diese Fragen sind sinnvoll und gut beantwortbar. Wirklich? Genauer betrachtet hat Olaf Scholz viel mit dem unsichtbaren Gas gemein. Denn unser Zugang zu ihm ist auch durchaus indirekt. Wir sammeln Eindrücke: Bilder, Sätze, Stimme, Gestik, Mimik, Körperhaltung, biographische Fakten. Alles wird zunächst durch unsere Sinnesorgane gefiltert. Anschließend bauen wir es zusammen und nennen das Ergebnis „Olaf Scholz“. Mit dem wirklichen Menschen hat dies wenig zu tun – zuweilen so wenig, dass wir genauso gut behaupten könnten, CO2 sei böse.
Die Eigenschaften, die wir Scholz zuschreiben, sind unsere Projektion. Dass gerade der SPD-Kandidat sich ganz besonders für Projektionen anbietet, hat die heute-show unlängst in einem pointierten Tweet deutlich gemacht.
Und genau dies macht den Mann derzeit extrem erfolgreich. Denn er vereint zwei sehr verschiedene Projektionen auf sich. Die eine stammt von der CDU unter Angela Merkel: Ein ruhiges Weiter-so ohne große Veränderungen. Die andere, entgegengesetzte Projektion kommt von den Grünen und steht für „Veränderung“ und „Aufbruch“. Insgesamt verbinden wir mit Olaf Scholz „moderate Veränderung“. Eine Anpassung an die Klimakatastrophe, die so sanft ausfällt, dass sie gut verträglich erscheint. Wir könnten sie sogar noch spät abends zu uns nehmen und hätten einen ruhigen Schlaf.
Vielleicht bekommen wir mit Olaf Scholz tatsächlich etwas in der Art. Ganz sicher aber sind unsere Projektionen, die wir auf diesen einen Menschen richten, nicht identisch damit, was die Wahlen letztlich bewirken werden. Was können wir tun, um richtig zu entscheiden und nicht an den Eigenarten unseres Gehirns zu scheitern?
Die Klimakrise ist real – unsere Zukunft auch
Welche Zukunft kommt also auf uns zu und wie können wir sie gestalten? Der CO2-Gehalt der Atmosphäre spielt dabei eine wesentliche Rolle. Dies stellt die Wissenschaft seit Jahrzehnten unmissverständlich klar. Gegen jede Intuition verbleibt entwichenes, winziges, unsichtbares CO2 für Jahrhunderte in der Atmosphäre, statt einfach in den Weltraum zu entweichen. Gegen jede Intuition führen klitzekleine Gas-Moleküle zu gigantischen, sehr konkreten Extremwetter-Folgen.
Seit 1989 bewegen wir uns diesbezüglich in einem Risikobereich. Wenn wir die globale Mitteltemperatur um mehr als 1,5 Grad im Vergleich zur Mitte des 19. Jahrhunderts überschreiten, geraten wir in einen Hochrisikobereich. Wohlgemerkt: Nicht fürs Klima, sondern für uns Menschen. Wir müssen unseren CO2-Ausstoß in circa zehn Jahren auf Null bringen, um den allergrößten Gefahren auszuweichen.
Dies ist knallhart. Unsere Psyche stellt uns daher vielfältige Interpretationen der Wirklichkeit bereit, um diese wissenschaftlichen Befunde für unser Gemüt erträglich zu halten. So etwas, wie: „Es wird schon nicht so schlimm kommen.“ Doch dies dient nur der Selbstberuhigung. Es beeinflusst die Realität in keiner Weise. Auch, ob wir Herrn Scholz oder Frau Baerbock nun gut oder blöd finden, ändert nichts am Erdklima.
Wie beeinflussen die Wahlen die Realität?
Olaf Scholz ist nicht die SPD. Ihn mit seiner Partei gleichzusetzen, ist nur eine weitere Projektion und dient dazu, dass wir die Wirklichkeit leichter in unserem Kopf unterbringen. Um die Folgen der Wahl abschätzen zu können, halten wir uns daher besser an die Parteiprogramme. Was ist danach von den jeweiligen Parteien zu erwarten? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir die wissenschaftliche Forschung nutzen. Genau dies hat das DIW nun gemacht und untersucht, welches Parteiprogramm sich wie zur Realität verhält.
Dabei kam erstens heraus: Keines der Parteiprogramme erreicht die bei der Weltklimakonferenz in Paris verbindlich vereinbarten Marken. Zur Erinnerung: Die dort beschlossenen Obergrenzen an gerade noch verträglicher globaler Erhitzung war durchaus nicht wissenschaftskonform, sondern ein politisches Verhandlungsergebnis. Kein:e Wissenschaftler:in würde je empfehlen, den Risikobereich bis ins Letzte auszureizen. Nein, Paris war der Kompromiss. Ein Fazit aus politischen Befindlichkeiten und Wünschen der Länder.
Zweitens: Genauer untersucht wurde das, was Parteiprogramme im Vergleich zum derzeit gültigen deutschen „Klimaschutzgesetz“ (das eigentlich „Menschenschutzgesetz“ heißen müsste) leisten. Heraus kamen eindeutige Unterschiede der Parteien, die die folgende Grafik zeigt. Eine voll ausgefüllte Fläche würde eine ausreichende Annährung – nicht an die „Realität“ aber immerhin – an das beschlossene deutsche Klimaschutzgesetz bedeuten. Das Ergebnis ist klar: Nur eine Partei erreicht die Zielmarke fast (vgl. auch den “Klimawahlcheck“).
Unsere Welt ist voll von Projektionen
Wir leben in einer Welt der selbst gebauten Projektionen. Sobald unser Gehirn eine Chance sieht, etwas Kompliziertes auf menschliche Eigenschaften einzudampfen und unser psychologisches Wissen anzuwenden, wird es uns diese Sicht der Dinge aufdrängen. Doch mit der Realität hat dies nur sehr bedingt zu tun. Die Krise ist extrem und der politisch-gesellschaftlich-wirtschaftliche Umbau muss ebenso extrem sein.
Geht es bei der Bundestagswahl 2021 wirklich um ein „Endspiel ums Klima“? Nein, dies ist eine Vereinfachung der Realität. Einerseits ist es sogar noch schlimmer, denn auch um den Artenschutz und andere planetare Grenzen steht es katastrophal. Andererseits wird auch über Demokratie und Arbeitsplätze entschieden. Und das Leben auf der Erde wird nach dieser Wahl weitergehen. Ganz egal, wie sie ausfällt.
Dennoch bleibt die Erkenntnis wichtig: Im Hinblick auf unser verbleibendes CO2-Budget und die Ausstrahlung Deutschlands auf die Weltpolitik kommt dieser Wahl eine außerordentliche Bedeutung zu. Dazu tritt die erschreckende Erkenntnis, dass weitere Manipulationen des Erdklimas auf Jahrhunderte hin irreversibel sind. Egal, ob uns dies spontan plausibel erscheint und einleuchtet oder nicht. Gleichgültig, wie wir unseren Emotionshaushalt regulieren. Diese Wahl hat bedeutende, ganz reale Auswirkungen. Sie mit zu viel Psychologie aufzuladen, wird sich bitter rächen. Investieren wir unsere Kreativität lieber dazu, den Umbau entschlossen anzugehen.