Der Karriere-Gott – oder die Geschichte einer Volksdroge

Wie lebten die Leute früher, sagen wir, vor 100 oder 150 Jahren? Und was hat die Armut damals mit unseren Karrieren heute zu tun?

Christus und die Not auf der Alb

Im Freilichtmuseum Beuren können Sie das Leben von damals lebendig werden lassen. Eine Kammer im Weberhaus, die heute für ein einziges Kind als klein empfunden würde, beherbergte damals Magdalena Graser mit ihren erwachsenen Töchtern und deren unehelich geborenen Kindern. Sieben Menschen lebten in der Kammer, die Sie links abgebildet sehen.

Schräg gegenüber steht ein Bauernheim mit zugehörigem “Ausgedinghaus“. Als die Kinder heirateten und den Hof übernahmen, wurde ein Vertrag geschlossen. Er beinhaltete die lebenslange Versorgung der Eltern mit festgelegter Anzahl von Kohlköpfen, Zentnern Getreide, Litern Milch – und deren Auszug ins Ausgedinghaus.

Bittere Armut und Trost im Gottesglauben

Ausgesprochen klein gebaut umfasst es einen ebenerdigen Wohnraum mit winziger Küche (rechts zu sehen). Darüber sitzt direkt das Dach auf, welches das Bett vor Regen und Schnee schützt. Die Ziegel liegen blank und rundherum sind zahlreiche Löcher geblieben. Die Vorstellung, wie es sich dort im Winter aushalten ließ, lässt einen Grausen (siehe das Bild links unten).

 

Trost spendete die Bibel, die häufig das einzige Buch im Haus war. Und das war bitter nötig. Ich denke mir, dass die damaligen Lebensverhältnisse mit ihrer erdrückenden Armut nur so auszuhalten waren. Im Glauben daran, dass es “da oben” einen Gott gab. Dass er die Regeln aufstellte. Und dass er ein hartes aber braves Erdenleben mit späteren unendlichen Himmelsfreuden vergalt.

 

 

Das Foto rechts bebildert schön diese These: In der Mitte das Hoffnungsbild, ringsherum Elend (Ausgedinghaus). Die Journalistin Gudrun Mangold, die aus Laichingen auf der Alb stammt und sich viel mit deren Geschichte beschäftigt hat, kommt übrigens zum gleichen Ergebnis (wie ich heute, Mai 2013, erfahre).

Heute sind die Armen wohlhabender. Hartz-4-Empfänger in eine zugige, ungeheizte Bude zu stecken, wäre sittenwidrig. Ein Fernseher steht jedem zu, ebenso wie eine Krankenversicherung. Passenderweise hat sich unser Gottesbild gewandelt. Der Glaube gibt noch Halt, aber wir brauchen ihn nicht mehr dringend. Und mit den strengen Regeln nimmt es auch keiner mehr so genau.

Im Angesicht des Weberhauses mit seiner winzigen Kammer und des zugigen Ausgedinghauses denke ich ans erste Semester meines Psychologie-Studiums. Die Psychologie, so bekamen wir zur Geschichte des Fachs zu hören, sei ein moderner Ersatz für die Religion. Früher wandten sich die Leute an den Seelsorger; heute melden sie sich zur Therapie an. Damals glaubten sie an Gott, an seine Regeln und an das spätere Paradies. Und heute? Woran glauben wir heute? Wohl kaum an die wissenschaftliche Psychologie. Kein Psychologe verspricht das Paradies, weder im Diesseits noch im Jenseits. Keine Therapeutin wird es unterlassen klarzustellen: Wollen Sie genesen – dann müssen Sie selbst an sich arbeiten. Wunderheilungen werden nicht in Aussicht gestellt.

Was ist unsere Ersatzreligion?

Was könnte also die heutige Ersatzreligion sein? Nötig haben wir sie jedenfalls. Zwar gibt es keine Armen in Ausgedinghäusern mehr. Aber immer noch gilt es für Durchschnittsverdiener, einiges auszuhalten. Während die einen dreißig Jahre brauchen, um ihre Immobilie abzuzahlen, plagt andere in finanziellen Dingen höchstens die Frage der optimalen Rendite. Während der eine im klapprigen Golf daher kommen, zögert sein Nachbar noch, ob ihn heute der geschlossene Daimler, der offene Porsche oder die Harley zur Premiere ins Opernhaus bringen darf. Und wenns nicht der Nachbar ist, weil der es auch nur zum Fiat gebracht hat, so können wir es uns täglich im Fernsehen geben, was auf dieser Welt an Reichtum möglich ist. Grund genug also, auch heute noch unseren unruhigen und neidischen Geist zu beruhigen.

Was ist unser moderner Trost? Wo finden wir uns zu hunderten ein, um modernen Predigern auf Bühnen zu lauschen, die keine allmähliche und relative Besserung, sondern wirkliches Glück versprechen? Die erklären, jeder könne den Job kündigen und einen neuen, besseren finden? Jeder könne die Ehe verlassen und eine frische, erfüllendere Beziehung beginnen? Die vom umfassenden, schnellen Wandel sprechen? Die sich nicht lumpen lassen und stets einfache, sofort umsetzbare Tipps geben? Ja, die modernen Propheten predigen, dass es jeder schaffen kann, wenn er nur an sich glaubt und die Methode des Predigers anwendet. Und sie halten “das Volk” ruhig, wie die Bibel die Leute damals. Sie rufen: “Gönnt den Reichen ihren Reichtum, denn er gehört ihnen nunmal. Verändert eure Sicht der Dinge! So könnt auch ihr das Glück und den Erfolg finden. Es kommt auf dich an, Bruder und auf dich, Schwester. Woran du glaubst! Jeder kann glücklich werden und jede kann erfolgreich sein!”

Gehirnforschung contra Guru

Dabei sind der Glaube und die Guru-Methode in der Regel vollkommen unwirksam. Ihre Erfolgsgeschichten beschreiben die Ausnahmen. Und unsere Faszination, wenn wir ihnen lauschen, rührt von der Vorstellungskraft unseres Gehirns her. Von dessen Teilung in ein Bewusstsein, das sich alles Denken kann und ein limbisches System, das bei solchen Vorstellungen ein emotionales Feuerwerk entfaltet. Im schlimmsten Fall geht einer wirklich raus, schmeißt Job und Ehe hin und steht mit leeren Händen da. Psychologische Therapie und seriöse Karriereberatung sehen anders aus.

Wollen Sie meine Gedanken nachvollziehen? Dann besuchen Sie das Freilichtmuseum Beuren bei Nürtingen. Es ist kaum zu glauben, wie die Menschen noch vor hundert Jahren gelebt haben. Erschreckend war für mich außerdem, dass in einer noch etwas aktuelleren Ecke des Museums die D-Mark ausgestellt war und andere Dinge des Alltags, die ich aus meiner Kindheit kenne. Bin ich schon so alt? Nein, es ist einfach so kurz her. Und die Armut des Ausgedinghauses ist auch nicht so viel weiter weg. Mitsamt dem einen Buch des Trostes, der Bibel und dem naiven Glauben an den gerechten, ausgleichenden Gott. Und der geschichtlich gesehen winzige Zeitsprung verhilft zu einem Abstand, der es möglich macht zu erkennen, was die meisten modernen Erfolgspropheten lediglich bieten: Opium fürs Volk.

Hier erkläre ich genauer, wieso wir die modernen Propheten nötig haben.

Hier mache ich das moderne Prophetentum anschaulich.

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