Können Stärken unerwünscht sein?

Stärken sind immer gut! Oder? Tatsächlich gibt es auch ausgeprägte Stärken, die fast überall unerwünscht sind. Ein Beitrag zur Blogparade von Svenja Hofert.

Anders als die anderen

Vor dreißig Jahren tauchte der geniale Physiker Richard Feynman einen Dichtungsring in ein Glas Eiswasser. Der Ring verlor durch die Kälte seine Funktionsfähigkeit. Feynman zeigte damit die physikalische Ursache der Challenger-Katastrophe auf, der Vernichtung von Millionen von Dollar und sieben Menschenleben. Es war eine der berühmtesten Präsentationen der Geschichte.
Als Feynman gebeten wurde, in der Kommission zur Untersuchung des Unglücks mitzuarbeiten, sagte seine Frau zu ihm: Das musst du tun! Denn wenn zehn Leute losmarschieren, bist du garantiert der einzige, der in der entgegengesetzten Richtung losgeht und nach der Ursache sucht (Buch). Diese Geschichte ist für mich immer ein prägnantes Beispiel für eine Stärke, die keiner haben will. Tatsächlich hatte es Feynman bei seinen Untersuchungen mit mächtigem Gegenwind zu tun. Denn auch wenn das mit dem O-Ring erstmal entdeckt werden musste: Es war nur die physikalische Ursache der Katastrophe. Mit schlichter Macht durchgesetzte letztlich monetäre Gründe waren die schlechten Gesellen im Bunde.

Auch wenn ich nicht den Bruchteil von Feynmans Genialität besitze, gleiche ich ihm dennoch in bestimmten Eigenschaften. Da wären die Abneigung gegen Routineaufgaben und der Hang zum neuen, unkonventionellen Denken. So kam ich auch zu diesem Thema für die Blogparade. Über Spiky Leaders beispielsweise hatte ich schon geschrieben (Menschen, die ausgeprägte Stärken, aber auch ausgeprägte Schwächen haben, bringen Unternehmen nachweislich nach vorn) und wie Sie Schwächen in Stärken verwandeln. Es sollte also etwas Neues sein. Und ich dachte: Wenn Svenja Hofert ruft, erntet sie bestimmt viele Beiträge. Ich will weder mich noch andere wiederholen und vermutete, dass trotz vieler Beiträge keiner über unerwünschte Stärken schreibt.

Was sind unerwünschte Stärken?

Zunächst kann es jede Stärke treffen, die im falschen Kontext auftaucht. Beispielsweise ein gesunder Machtinstinkt bei einer Pflegekraft (nicht dagegen im Management). Oder eine Tendenz zum Kumpelhaften im Management (nicht jedoch in vielen Vertriebsjobs).

Fast immer unerwünscht, sind aber Stärken, die etwas sehr Grundlegendem zuwider laufen: Unserem Wirtschaftssystem. Der Kapitalismus führt zum Streben, verkäufliche Produkte möglichst effizient zu entwickeln und in großer Menge abzusetzen.

Kreativität – eine unerwünschte Stärke?

Offiziell ist ihr Ruf hervorragend – die Kreativität wird viel gelobt. Sie sei der Schlüssel, mittels High Tech der internationalen Konkurrenz von “chinesischen Kopisten” zu entkommen. Viele Stellenanzeigen sprechen davon, dass Unternehmen kreative Kräfte suchen. Viele Bewerber bezeichnen sich als kreativ und meinen, damit zu punkten. Wie komme ich also darauf, dass ausgerechnet eine Stärke mit solchem Glanz abgelehnt wird?

Um dies zu verstehen, müssen wir uns mit den Hintergründen befassen (hinterfragen, reflektieren, komplexer werden – auch das sind unpopuläre Wege). Also: Bestimmungsstück der Kreativität ist es, neue Wege zu finden (soweit, so gut). Probleme zu lösen (auch okay). Und dies (Achtung!) zu tun, indem man Probleme entdeckt! Ein Kern der kreativen Leistung ist es damit, Probleme erst zu benennen. Und, um es ganz deutlich zu sagen: In der Praxis heißt das, dass mit Kreativität gesegnete Köpfe Probleme dort sehen, wo andere sie nicht erkennen. Das sieht in der Realität eindeutig so aus, als ob sie die Probleme erst erschaffen! Wo vorher noch alles in Ordnung war, kommt ein Beschäftigter – eher wohl ein Querulant, oder? – und erzeugt Probleme, macht Ärger, hintertreibt ein funktionierendes System! Das ist das Problem mit der Kreativität.

Kapitalismus oder Kreativität

Damit hemmt der echte, kreative Gedanke zunächst die Verwertung von alten deen, die sich bis dato auf die bisher erprobte Weise hervorragend verkaufen ließen. Der Produktions- und Verkaufsprozess wird verlangsamt und behindert. Es werden Sand ins Getriebe gestreut und Steine in den Weg gelegt.

Dennoch: Kann diese Kritik zutreffen, wo doch alle immerzu Verbesserungsvorschläge preisen und Optimierungen erstreben? Ja! Denn ein Tröpfchen Öl in ein laufendes Getriebe zu bringen, ist noch keine kreative Lösung. Diese Sorte von Intervention ist selbstverständlich willkommen! Nein, ein wirklich kreativer Gedanke setzt grundsätzlicher an. Er ist meist dazu angetan, als reiner Hemmschuh zu gelten. Es ist genau der Weg, den alle anderen nicht gehen oder nicht gehen wollten. Der einfach falsch zu sein scheint. Unnötig, ja unmöglich.

Profitable Firmen versuchen, die Prozesse zu optimieren. Sie wollen eine bewährt verkäufliche Erfindung vermarkten. Damit machen sie ihr Geld! Tatsächlich bringt ein innovativer Gedanke vielleicht später einmal Geld – sicher ist das nicht. Relativ klar scheint für heute nur zu sein, dass die neue Idee den alten Weg, Profit zu machen, aufhält. Insofern ist der Ideenreichtum das Gegenteil von unserem Wirtschaftssystem. Richard E. Sutton empfiehlt beispielsweise, mehr Innovation ins Unternehmen zu bringen, indem man Mitarbeiter einstellt, die man nicht braucht. Oder solche, die nicht ins System passen und schwer einzuhegen sind. Oder ihnen keine Aufgabe zu geben. Auch wenn der Wirtschaftsprofessor den Gewinn durch diese scheinbar verrückten Maßnahmen sogar empirisch nachweisen kann: Er billigt seinen Kritikern ohne weiteres zu, dass solche Entscheidungen den Profit (zunächst) mindern.

Tipps für Hoch-Kreative

Wie finden Sie heraus, ob Sie wirklich kreativ sind? Wenn Sie für Ihre Einfälle stets und überall nur gelobt werden, sind Zweifel  angebracht. Wenn Sie dagegen in gleichem Maße Lob wie Tadel erfahren, kommen wir schon eher in der Richtung echter Kreativität. Wenn Sie anecken und nicht immer gleich verstanden werden. Und wenn Sie zuweilen den Eindruck haben, dass Ihre genialsten Ideen am allerwenigsten willkommen sind.

Wie gehen Sie mit Ihrem Talent um? Gewöhnen Sie sich das Hadern mit Ihrem So-sein ab. Lassen Sie sich nicht von anderen verbiegen oder einreden, dass Sie so sein müssen, wie alle Welt. Aber suchen Sie sich einen fruchtbaren Boden für Ihre Ideen. Sie brauchen einen Mentor, den richtigen Kontext, die passende Spielwiese. Diese zu finden, ist nicht Sache der anderen, sondern Sie dürfen ruhig eine aktive Suche danach betreiben. Schließlich sind nicht die andern anders – sondern im Vergleich zu Ihnen alle gleich!

Die Zukunft der unerwünschten Stärken

Das oben beschriebene Muster passt nicht nur auf die Kreativität, sondern auch auf andere unerwünschte Stärken, beispielsweise den ausgeprägten Hang zur Qualität (statt Quantität), das Bedenkentragen und Hinterfragen. Immer braucht es den passenden Nährboden, d.h. eine adäquate Nische und mindestens eine (relevante) Person, die die Stärke zu würdigen weiß.
Wie steht es in der Zukunft? Wird da nicht vieles neu gedacht, werden nicht herrschende Systeme umgekrempelt? Der Kapitalismus ist das bis auf weiteres bestimmende Wirtschaftssystem. Dies wohl aus guten, anderen Gründen (z.B. der relativ leichten Möglichkeit, selbst aktiv zu werden). Und solange dies so ist, wird die echte und damit kritische, nörgelnde, zunächst unproduktive Kreativität in Nischen verwiesen.

Jedem seine Nische

Auch wenn ich manches an meinem Beratungsprozess systematisiert habe: Ich lebe in meiner Nische, indem ich jeden Einzelfall neu betrachte und begeistert bin über die Vielfalt der Menschen und ihrer Themen, die ich leidenschaftlich gern lösen helfe. Das finden zumindest meine Kunden und ich gut – auf allgemeine Anerkennung oder finanzielle Höhenflüge brauche ich nicht zu hoffen.

Richard Feynman war am Ende eine lebende Kultfigur und seine Präsentation wurde berühmt. Aber bis er es dazu brachte,  handelte er sich eine Menge Ärger ein. Wenn Sie selbst in sich einen Splitter seiner Persönlichkeit entdecken, eine gewisse Aufmüpfigkeit, Langeweile bei Routineaufgaben, ein ständiges Suchen nach besseren Lösungen, einen Hang zum Zweifel und zur Kritik, den Antrieb, sich an der Sache statt an der Diplomatie zu orientierten, wenn Sie zur erfinderischen Faulheit neigen oder zur kompromisslosen Top-Qualität streben: Suchen Sie sich mindestens einen Unterstützer und eine passende Nische.

3 Kommentare

  • Klasse Text, in dem ich mich sehr gut wiedererkennen kann.

    Meistens versucht man sich im Berufsleben dann doch wieder irgendwie anzupassen, oder eben verbiegen zu lassen – zumindest war es bei mir lange Zeit so. Es braucht ganz schön viel Mut den ersten Schritt zu wagen um fruchtbaren Boden für seine Kreativität zu suchen.

    Antworten
    • Vielen Dank für Ihren Kommentar. Hoffentlich trägt dieser Beitrag im einen oder anderen Fall zur Ermutigung bei. Schöne Grüße, Christoph Burger

      Antworten

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