“Ich-Entwicklung ist auch etwas Lustvolles” – Dr. Thomas Binder im Interview

Wie können sich Erwachsene sinnvoll entwickeln, bessere Führungskräfte werden, kompetenter und souveräner in persönlichen Dingen? Im Interview spricht Dr. Thomas Binder über die Lust an Entwicklung und die Weitung des Geistes, welche jedem Menschen offen steht.

Du beschäftigst dich seit zwanzig Jahren ausführlich mit dem Ich-Entwicklungsmodell. Kannst du bitte kurz schildern, was dich daran so fasziniert?

Ich möchte Menschen verstehen. So wie sie die Welt sehen und für sich erfinden, ohne dass es ihnen vielleicht bewusst ist. Das Ich-Entwicklungsmodell scheint mir dazu das entscheidende Puzzleteil. Und ich möchte Menschen und Organisationen helfen, sich weiterzuentwickeln, so dass für sie ein wirklicher Unterschied spürbar wird. Das Ich-Entwicklungsmodell beschreibt, wie Menschen sich in ihrem Kern verändern, wenn wirkliche Entwicklung stattfindet. Dementsprechend groß ist die Bedeutung: Im Privaten wie auch in Organisationen.

Du unterscheidest zwischen „Lernen“ und „Entwicklung“?

Ja. Lernen passiert, indem wir uns ein bestimmtes „Tool“ aneignen oder weiteres Wissen anhäufen. Ich-Entwicklung dagegen bedeutet, dass sich unsere ganze Sichtweise verändert, sie umfassender, tiefer und flexibler wird. Dadurch können wir auch anders mit Herausforderungen umgehen.

Lernen – also letztlich Schule und Studium sowie das Gros der Personalentwicklung – das genügt nicht?

Nur bedingt – die Aneignung von Wissen und Fähigkeiten allein genügt nicht mehr in unserer Zeit. Denn wir sind mit unserem ganzen Selbst gefordert. Die Dynamik und Komplexität heutzutage – gerade beispielsweise in Wirtschaft und Politik – ist enorm. Immer dann, wenn das Umfeld komplexer ist als unsere eigene Handlungslogik, wird es für uns schwierig. Statt zu verharren oder zu verhärten wäre unsere eigene Weiterentwicklung die geeignetere Antwort.

Zudem ist Entwicklung auch etwas Lustvolles. Es ist spannend, sich immer wieder neu zu erfahren. Entwicklung ermöglicht es, neue Sichtweisen zu integrieren, mehr zu verstehen und freier zu sein. Das kostet auch Kraft, zugegeben. Aber aus eigenen Erfahrungen und vielen Beratungen bin ich überzeugt: Es lohnt sich.

Du legst Wert darauf, von „früheren“ und „späteren“ Stufen zu sprechen – statt von „niedrigeren“ und „höheren“. Ist das in einem Modell, das eine qualitative Entwicklung beschreibt, nicht Augenwischerei?

Ich denke nicht. Selbstverständlich handelt es sich beim Ich-Entwicklungsmodell um qualitative Unterschiede. Auf jeder weiteren Ich-Entwicklungsstufe erreichen wir als Mensch eine Weitung unseres Ichs und damit letztendlich eine Weitung unseres Geistes. Somit steht uns eine größere geistige Kapazität zur Verfügung.

Das heißt aber nicht automatisch, dass man dadurch ein besserer oder angenehmerer Mensch wird. „Früher“ und „später“ ist neutraler und drückt das eher aus. Es trifft auch die Zeitperspektive, die ja Realität ist: Die Stufe E4 kommt im Leben eines Menschen vor der Stufe E5 – überall auf der Welt.

Wie lässt sich denn messen, wer auf welcher Stufe steht?

Das Verfahren dafür ist aufwändig. Menschen produzieren „Material“, d.h. werden zu relevanten Äußerungen angeregt, die sie notwendiger Weise aus ihrer ganz persönlichen Perspektive heraus treffen. Speziell darin ausgebildete Experten werten dies aus. Die wissenschaftliche Relevanz dieses Verfahrens ist mittlerweile umfangreich nachgewiesen.

Fragebögen zum Ankreuzen funktionieren übrigens nicht. Hier würde bei vielen Menschen eher herauskommen, wo sie selbst gerne wären, d.h. eine Art „gefühlte Entwicklungsstufe“.

Die Ich-Entwicklungsstufe ist unabhängig von Intelligenz und Wissen. So jedenfalls die Theorie. Aber muss das Messinstrument nicht in dem Moment versagen, wenn jemand gebildet und intelligent ist, postkonventionelle Werte vertritt und die sogenannte „systemische Literatur“ gut kennt?

Erfahrene Scorer können meist erkennen, wenn es sich nur um angelesenes Wissen handelt. Dafür bietet der Test viele Anhaltspunkte und eine mehrstufige Auswertungsprozedur.

Ein essentieller Bestandteil unseres Verfahrens ist außerdem, dass der Coach die Ergebnisse in einem längeren Auswertungsgespräch bespricht. Daher kommen zum Auswertungsbericht (Testergebnis) noch zwei weitere Datenquellen: Die Sicht des Kunden und die Beobachtungen im Auswertungsgespräch.

Kommen wir noch einmal konkret zur Frage, wozu man sich entwickeln sollte. Jemand auf der Stufe E4 ist sehr verbunden mit seiner Gemeinschaft, weiß von allem, wo es seinen Platz hat im Leben, ist zufrieden, wieso sollte derjenige sich weiter entwickeln?

Wenn es nur diese eine und zudem homogene Gemeinschaft gäbe, dann besteht für Entwicklung vielleicht kein Anlass. Spätestens dann aber, wenn ich Mitglied mehrerer Gemeinschaften bin, die sich gegenseitig nicht schätzen oder widersprechen, dann komme ich mit dieser gemeinschaftsorientierten Handlungslogik an meine persönlichen Grenzen. Ich stehe sozusagen mitten im Entwicklungskonflikt. Denn ich verfüge noch nicht über eine von diesen Bezugsgruppen unabhängige eigene Bewertungsinstanz, so dass ich diese Widersprüche gut für mich lösen kann.

Auf der folgenden Stufe E5 hat man sich bereits von der kompletten Einordnung in die Gemeinschaft abgesetzt und vertritt eigene Überzeugungen. Prozentual gesehen befinden sich die meisten Erwachsenen auf dieser Stufe. Viele sind damit sehr zufrieden, stehen verantwortlich im Leben. Warum sollten sie sich weiter entwickeln?

Weil es auf dieser Entwicklungsstufe wahrscheinlich viele Situationen gibt, in denen meine eher „einseitige“ Sicht an ihre Grenzen stößt. In denen ich mit meinen festen Vorstellungen vielleicht meine geliebte Frau immer wieder verprelle oder mit Arbeitskollegen in Auseinandersetzungen komme. Mein Denken und Fühlen ist auf dieser Stufe noch sehr von bestimmten Prinzipien und festen Überzeugungen geprägt und meine Sicht auf Menschen noch nicht sehr differenziert noch tiefgehend.

Jetzt wird es nochmals schwieriger. Die Stufe E6 ist eine, die du als voll entwickelte Stufe von Erwachsenen ansiehst. D.h. man hat nur noch wenig Anteile der E4, ein reichhaltiges Gefühlsleben, klare Werte, nach denen man differenziert urteilen kann. Was spricht dafür, sich dennoch weiter zu entwickeln?

Nun – vieles spricht dafür, diesen sicheren Hafen, sofern man ihn in seinem Leben erreicht hat, nicht mehr zu verlassen. Und man kann sich dort auch gut aufhalten. Man hat eine gewisse Toleranz gegenüber der Andersartigkeit anderer Menschen entwickelt, die vieles leichter macht.

Dennoch – letztendlich bleibe ich in „meinem System“, was auch immer dieses gerade ist, gefangen. Es kann noch so elaboriert sein. Ein wirkliches sich Öffnen gegenüber anderen, möglicherweise völlig entgegengesetzten Werten, Grundsätzen oder Verständnissen, ist hier noch nicht möglich. Wenn ein Mensch an diesen Punkt kommt, das zu spüren – manchmal schmerzlich und manchmal eher aus Neugier getrieben, fängt Entwicklung in Richtung postkonventioneller Handlungslogiken an. Das kann sehr befreiend wirken.

Die Stufe E7 erreichen nur wenige Erwachsene. Du bezeichnest sie als „relativierend“, weil die zuvor klare Wertorientierung sozusagen Risse bekommt und die Werte nur noch als relativ gültig angesehen werden. Hier erscheint einerseits ein „zurück“ zu mehr Klarheit sinnvoll. Aber laut Modell und empirischen Befunden ist das ja nicht möglich. Also auf zur E8? Warum?

Ich kann ja auch gut dort verweilen – sozusagen mit einer soliden „Eigenbestimmtheit“ der Stufe E6 im Hintergrund und zunehmendem Erkunden sowie Relativieren der eigenen oder fremden Sichtweisen. Problematisch wird es meist, wenn ich zu einem Punkt komme, den man als „destruktiven Relativismus“ bezeichnen kann. Alles ist relativ und nichts kann mehr irgendwie beurteilt und für sicher erachtet werden. Das kann für einen selbst und vor allem für meine Mitmenschen sehr anstrengend werden. Und es kann einen auch handlungsunfähig machen. Zudem wird dabei nicht gesehen, dass auch diese Sicht eine unreflektierte Wertung beinhaltet, nämlich dass nichts absolut ist oder gegeneinander abgewogen werden kann. Menschen die sich weiterentwickeln, können mit der inneren und äußeren Diversität besser umgehen. Sie bekommen wieder mehr Stand unter ihre Füße, weil sie auch widersprüchliche Anteile ihres Selbst mehr integrieren und Ambivalenzen besser aushalten können. Sie trauen sich wieder mehr zu urteilen. Sie sind sich bewusst, wenn sie urteilen und wägen ab, wann dies sinnvoll ist und wann nicht.

Um noch einen kurzen Blick in das zu wagen, was du „Minderheitenprogramm“ nennst: Auf E8 gibt es Prinzipien, die die Welt ordnen. Man kann Widersprüche stehen lassen, wird der Realität so gerechter. Auch sehr komplexe Situationen können gut gedeutet werden. Eine sogenannte „stufenspezifische Reizbarkeit“ gibt es nicht mehr. Man sieht und bewertet die Dinge differenziert, gelassen, sicher, interessiert sich für Menschen. Mal abgesehen von der ab und zu auftretenden fixen Idee von E8ern, dass spätere Stufen alle Probleme lösen: Wieso sollten sie sich weiter entwickeln?

Ich glaube, dass ein „Sollen“ für Menschen an dieser Entwicklungsschwelle kein adäquates Wort mehr ist. Menschen, die ernsthaft an dieser Schwelle stehen, fragen sich nicht nur, wer sie eigentlich sind und wie sie verschiedene Anteile in sich integrieren können, sondern ob diese Frage überhaupt relevant ist. Sie beginnen zu durchschauen, wie ihr eigenes Ich nicht nur alles filtert und mit Bedeutung durchsättigt, sondern vielmehr alles erzeugt. Und somit beginnen sie zu verstehen, wie sie sich damit von dem, was man vielleicht als „Fluss des Lebens“ oder „Einheit von allem“ bezeichnen könnte, selbst trennen. Dies ist ja eine Frage, die man in fast allen spirituellen Ansätzen und Religionen findet. Eine Person auf dem Weg zu E9 und E10 macht sich sozusagen auf zu dieser „Freiheit vom Ich“. Eine nicht ganz einfache aber möglicherweise spannende Reise!

Ich möchte aber noch einen „horizontalen“ Gedanken an dieser Stelle hinzufügen. Wir haben uns die ganze Zeit über Entwicklung („vertikal“) unterhalten. Also Entwicklung zu einer späteren Stufe hin. Es gibt jedoch auf jeder Ich-Entwicklungsstufe selbst genügend Raum, den es auszufüllen gibt, wenn man einmal dort angelangt ist. Die Qualitäten dieser jeweiligen Stufe in mein Leben voll zu integrieren und in verschiedenen Lebensbereichen gut verfügbar zu haben, ist schon eine große Aufgabe. Und ich kann auf jeder Entwicklungsstufe versuchen, ein gütigerer, liebevoller und wertvoller Mensch zu sein. Wenn ich mich zudem noch entwickle, wäre das wahrscheinlich das Ideal.

Ganz herzlichen Dank für das Interview!

Dr. Thomas Binder

binder@consulting-group-berlin.de

Thomas Binder ist Dipl.-Kaufmann und Dipl.-Psychologe und seit 20 Jahren als  Organisationsberater bei Veränderungsprozessen tätig. Er ist systemischer Supervisor (DGSv, SG) und Mediator (BM®) und beschäftigt sich seit 1993 intensiv mit konstruktivistisch entwicklungspsychologischen Ansätzen sowie deren Anwendung in Management-Diagnostik, Führungskräfteentwicklung und Coaching. Seit 2009 leitet er einmal jährlich Zertifizierungen zum Ich-Entwicklungs-Profil.

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